Diesen
Weg bin ich noch nie gegangen. An Wohnhäusern vorbei. An einem Bächlein mit
vielen kleinen Holzbrücken und mit grellgrün gleichsam im Wasser fließenden Wasserpflanzen.
Ich denke nach über den Gefrierpunkt und über Wasser, das am Grund immer vier
Grad hat. Da können Fische nie erfrieren. Das Wasser hat unten immer vier Grad,
weil es bei vier Grad am schwersten ist.
Ich
komme an einer Kleingartenkolonie vorbei. Die Tore sind geschlossen. Eisiger Wind fegt mir ins Gesicht. Brennt.
Mir macht das nichts. Ich will das so. Mir gefällt das so. Es ist eisig und man muss herb und hart sein, um da durch zu kommen. Die Kälte schneidet und brennt. Aber ich fühle mich lebendig, trotzig, böse. Bin immer dagegen. Lehne mich in Kälte und Wind.
Mir macht das nichts. Ich will das so. Mir gefällt das so. Es ist eisig und man muss herb und hart sein, um da durch zu kommen. Die Kälte schneidet und brennt. Aber ich fühle mich lebendig, trotzig, böse. Bin immer dagegen. Lehne mich in Kälte und Wind.
Bin
nicht gegen das Wetter, nicht gegen den Winter, nicht gegen die Kälte. Ich höre
die Vögel zwitschern und hoffe, dass sie nicht zu sehr leiden, wenn jetzt der
Frühling noch einmal einen kräftigen Rückzieher gemacht hat.
Die Leute reden. Viele meinen, sie hätten jetzt einen Anspruch auf
Frühlingswetter.
In der S-Bahn verfolge ich ein Telefonat:
Hallo
Hildegard, hier ist die Tine. Die Stimme klingt voll nach Tine: I und T wie, gläsern, penetrant und hoch. Du ich rufe Dich an, weil ich Dich mal fragen wollte, wie
es der Babs so geht. Ich mach mir da so langsam ein bissl Sorgen. Ich erreiche
sie irgendwie nicht und das letzte Mal als ich mit ihr telefoniert habe, da war
sie noch mit der Magdalena im Krankenhaus und da hatte sie noch so
Untersuchungen wegen dem Ohr vor sich. Jetzt habe ich mir gedacht, ich ruf bei
Dir mal an, vielleicht wissts ihr ja was. Ja, und wie geht es Euch? Ja, mir
geht es wieder bessser. Bissl Stress in der Arbeit aber das bessert sich
gerade. Weißt es gibt gute Tage und es gibt schlechte Tage. Die Kinder sind
halt a bissl stressig. Ja, wir müssen uns unbedingt mal wieder sehen. Ruf doch
mal durch, wenn es bei Dir geht. Ja, bei mir geht es vielleicht mal am
Vormittag... und so weiter.
Ich wollte eigentlich lesen. Aber mit Tine im Ohr war mir das nicht möglich. Zuvor hatte sie noch ein Gespräch mit einem kleinen Mädchen geführt, der sie erklärt hat, was eine Mensa ist: Weißt du, das ist so ein sehr großer Raum, wo seeeeehr viele Menschen essen. Die Kleine guckt sie an und fragt: Caféteria?
Bei
der Hinfahrt hatte ich zwei Damen zugehört, die sich über die Krebsfälle von
Frauen um die 48 unterhalten haben. Alle 48, alle Raucherinnen. Und Du, fragt
die eine die andere, rauchst Du noch? Haach, jaaa, ach,,,, Voll das schlechte
Gewissen und überhaupt. Die andere redet weiter: Brustkrebs mit Metastasen im
Knochenmark waren auch mit dabei. Die arme Frau kann nicht mehr arbeiten und
bekommt zur Schmerzstillung Morphiumpräparate.
Da
kann man nichts mehr machen, meint die eine zur anderen, den Krebs kriegt man
aus den Knochen nicht mehr raus. Und zuvor hat sie noch erzählt, dass sie –
noch bevor es die eigentliche Diagnose gegeben hat – zu einer Heilpraktikerin
gegangen ist.
Zu
IHRER Heilpraktikerin und sie hat dann eine Weile sehr gesund gelebt und wirklich
nur noch Wasser getrunken, dass bei Vollmond abgefüllt
worden ist. So ein bissl esoterisch halt. Hätt die sich früher untersuchen
lassen, hätt die gute Chancen auf ein Überleben gehabt.
Ich
hab eine Freundin, die hat vor dreissig Jahren Brustkrebs gehabt und die lebt
jetzt ein gutes Leben. Der haben sie halt die Brust, die Drüsen und alles
abgenommen. Der geht es aber gut jetzt. Bei der anderen ist es nur noch eine
Frage der Zeit. Die Wirbelsäule haben sie ihr teilweise zementiert, weil da alles zerfressen ist. Die kann sich ja vor Schmerzen nicht
mehr rühren. Es ist einfach schrecklich. Da kann man ja kaum hinschauen. Selbst
schuld. Ja, man muss schon zur Vorsorge gehen. Was nützt die Angst vor dem, was
rauskommen könnte. Das ändert doch nichts. Ich tät ja da hingehen. Ich will
wissen, was los ist.
Schneebedeckte
Landschaften mit verdorrten hellgelben Grasbüscheln, die durch angefrohrene
Schneehauben hindurchstechen wie kräftige Haarbüsche und kleine Haine junger
Bäume, an denen noch nicht ein Hauch von Knospe zu sehen ist. Atmosphäre von
Niemandsland und Hundestrecken.
Ein
Wetter, das mit meiner gefühlten inneren Härte und mit
der inneren Gnadenlosigkeit Kontakt aufnimmt.
Da
hustet es, da philosophiert es in Überlautstärke, da plärrt es aus dem Ohrhörer
Heavymetal und überhaupt und überhaupt. Alles ist böse. Alles ist so
unerträglich. Alles treibt zur Flucht an.
Dieser
Mann setzt sich zu sehr in meine Nähe. Mir schräg gegenüber. Hätte der sich
neben mich gesetzt, ich wäre auf der Stelle aufgestanden und woanders
hingegangen. Er sieht so ausgelaugt und seltsam aus. Seine Haut ist bleich,
dünn und schuppig. Die Adern schimmern seine Haut hindurch hindurch. Er trägt eine Brille. Die
Augen sind grau, unbstimmt und verloren. Ein bisschen verdreht.
Ein
anderer Mann, der mir entgegenkommt, trägt enge, hellgraue
Kunstlederhandschuhe, die er nacheinander, langsam an den Handgelenken
hochzieht.
Ich
spüre förmlich, wie sich seine behandschuhten Hände anonym und keine Spuren
hinterlassend um meinen Hals legen. Zu viel fernsehgeguckt.
Nichts
Gutes. Heute nicht. Einfach so. Von vorneherein nicht. Gruselmärchen. Denkt man
an die spuckenden Jungs auf dem Bahnsteig, die mit ihren Kappen und gemusterten Jogginghosen mit einem Muster, das an einen Maschendrahtzaun erinnert. Dazu Kapuzenjacken, Kreuzkettchen und gegeelte Haare.
Mir
wird eisig. Flupp,
schon wieder rotzt er durch die Vorderzähne auf die Gleise. Die rauchen und wieder flupp, flupp
fliegt die Spucke in hohem Bogen auf die Gleise, in die kalte, schneidende
Luft, der S-Bahn und den Betonsquersparren der eisernen Gleise entgegen und ins
Nichts.
Wo
soll das hinführen? Keine Ahnung, Mann. Ist doch völlig egal. Schießt eine
Salve Schottersteine ins Gleisbett. Uns ist das doch scheiss egal. Guck
woanders hin.
Ich
wollte echt wissen, worüber die reden. Ich wollte wissen, wofür die sich
interessieren, ich wollte wissen, was die zusammenhält. Ich wollte wissen, was
da los ist. Ich wollte es verstehen, wie es dazu kommen konnte und was man da
tun kann. Ich wollte hinter diese Rotzfassade blicken können.
Irgendwie
waren die mir total fremd. Ich habe mich hinter dem Fahrplanglaskasten
versteckt. Die Abfahrtszeiten und das S-Bahn-Netz angesehen und dabei versucht
etwas von dem zu hören, was die reden.
Flupp,
schon wieder fliegt die Rotze. Keine Ahnung man. Der eine hält eine Bierflasche
in den Fingerspitzen. Schwingt sie hin und her. Aus Langeweile. Keine Ahnung
man. Der andere hat die Hände in den Taschen seiner Schlafanzujogginghose und
zieht die Hände so weit es geht mit den Taschen nach aussen. Er tänzelt auf den
jeweils äußeren Längskanten seiner Sneakers, die Kapuze seines Kapuzenshirts
über einer dunklen Lederjacke. Schwankt jetzt mit breitgezogener Hose, auf den
Längskanten balancierend und auf der Bahnsteigkante.
Weiss
nicht eh. Was willst Du überhaupt. Der andere schüttelt hektisch seinen Pony
aus dem Gesicht. Der nur wenig beeindruckt, die Augen sofort wieder überdeckt.
Flapp. Mann ey.
Eine
Durchsage. Die S-Bahn wird fünf Minuten später eintreffen. Wir stehen hier
schon knapp zehn Minuten und es ist echt kalt. Zeitungen sind keine mehr in den
Tonnen.
Hunderte
von Zigaretten sind hier ausgedrückt worden und hinterlassen eine von Punkt zu
Punkt festgedrückte Ascheschicht auf den Rändern und Abdeckungen der
Mülltonnen. Man riecht es schon, wenn man es nur ansieht.
In
den Ritzen der Bodenfliesen sammeln sich diverse Flüssigkeiten. Cola. Bier. Piesel. Ich bewege mich, damit mir nicht zu kalt wird.
Die
Kids nicht durch Nähe provozieren. Die wollen unter
sich bleiben. Ein Schrei zerreisst die ohnehin pfeiffende
Stille auf dem Bahnsteig. Von weitem haben die beiden einen Kumpel erblickt. Ey
Alter.
Eine
Frau vor dem Aufzug hustet in ihren Schal hinein. Wir fahren gemeinsam im Aufzug hoch. Es ist eng hier.
Eine
Bettlerin verlangt einsfünfzig für eine Zeitschrift. Mit großer Bestimmtheit in der Stimme. Sie befiehlt es mir. Nein, sage ich. Ich will nicht.
Jetzt nicht. Heute nicht. Ich denke trotzdem über die Bibel
nach. Natürlich
denke ich daran. Das
Geschäft mit der Bedürftigkeit. Ich gucke auf die unglaublichen Mengen von
Produkten, von Waren, von Käuflichem. Ich denke mir, das kann nur in einem Land
voller Bedürftiger überhaupt funktionieren.
Ich
habe nichts. Ich brauche was. Was ich habe, genügt nicht. Schöner
Wohnen. Schöner Leben. Schöner Angezogen sein. Schöner aussehen. Eiskalt.