Der
elfte dritte erinnert mich wie kein zweites Datum an Paris. Es ist der Tag, an
dem Nicolas Geburtstag hat – mein Pariser Aupair-Kind.
Heute
arbeite ich im Büro mit Kollegen zusammen, die ungefähr sein Alter haben. Junge
Leute, die ihren Weg gehen, ihre Berufsausbildung fertig haben.
Nicolas
ist nur zwei bis drei Jahre jünger. Als ich in Paris ankam, war er gerade sechs
Monate alt. Als ich ihn das erste Mal auf einem Sessel sitzend in den Arm
nehmen durfte, pinkelte er mir auf meinen Minirock.
Ich
war mit Rollschuhen und im Minirock in Paris unterwegs gewesen. Entgegen der
Legende, die jeder ausbreitete, der schon einmal in Paris gewesen war, demnach
die Metro ja das Allertollste sei, fand ich die Metro überhaupt nicht toll.
Sie
machte mir Angst. Besonders die ewig langen Gänge, die man entlangrennt, wenn
man umsteigen möchte. Hierzulande ist umsteigen eine Sache von wenigen Minuten.
In Paris dauert es viel länger.
Man
rennt und rennt wie Ratten im Labyrinth die Gänge entlang. Noch eine Treppe,
noch eine Biegung, noch ein Abzweig, entlang gekachelter Wände, bei großen
Stationen vorbei an Blumen- oder Avocado-Verkäufern, die ihre Waren gleich aus
Pappkartons heraus verkaufen, am liebsten immer gleich drei oder zehn Stück auf
einmal.
Die
Menschen rasen und es ist schwer jemanden, der sich in einem solchen Pulk
befindet zu bremsen und sein Interesse für zweifelhafte Waren zu wecken.
Alles
findet in kaltem Neonlicht statt, manche Werbeplakate wiederholen sich endlos
entlang solcher Strecken und schaffen wie Fenster mit Ausblick ein neues
Bewusstsein für irgendetwas, ein Boulevardtheaterstück, eine Damenunterwäsche.
Hier
sind keine Fenster,Türen und Ausgänge. Nur, wenn man eine Treppe nach oben
nehmen muss, bekommt man eine Ahnung, wie tief man sich gerade unter der Erde
befindet.
Manchmal
da lassen die eiligen Schritte - mit Blick an die Decke – ein Stoßgebet zu.
Hoffentlich geht alles gut. Das meiste geht automatisch. Alle eilen
automatisch. So automatisch wie elektronische Schranken, die die Passagiere
vorbeilassen, sobald sie ihren laissez passer vorgezeigt haben.
Also,
ich war nicht so heiß auf die Metro. Im Gegenteil. Manche Fahrt lag mir quer im
Magen und die Begeisterung über metrofahrende Straßenmusiker konnte ich nicht
teilen.
Wochenendausflügler
aus Köln, die haben es ja nicht so weit und zum Frühstück nach Paris, das ist
von Köln aus ein geradezu legendärer Ausflug, die finden das toll.
In
Köln sind die Bahnen zu schmal und zu eng. Da wird kein Musiker auftreten.
Außerdem würde der vom Fahrer gleich mal auf die Straße gesetzt.
Wenn
dann in Paris ein Straßenmusiker ein Kölner Pärchen in der Metro antrifft, dann
ist die Freude beiderseits: Ein verliebtes Musettewalzerchen mit dem Akkordeon
in der Metro und schon schnurrt sie: Ach, Schatz hör Dir das an, wir sind
tatsächlich in Paris. Ist das nicht wunderbar, verdreht sie die blitzenden
Äuglein und lehnt ihren Kopf eine seine Schulter, während er das Portemonnaie
zückt und zahlt.
Ich
bin damals mit Rollschuhen gefahren, weil ich etwas sehen wollte und wann immer
es die Strecke zuließ, benutzte ich einen Bus mit offener Plattform. Ich habe
mir einen Spaß mit Autofahrern erlaubt.
Der
Verkehr ist in Paris sehr dicht, geradezu distanzlos. Auch und gerade unter
Autofahrern. Da geht es eher zu, wie beim Autoscooter. Da wird angerempelt,
geschoben, gerückt, sich durchgequetscht, auf Augenkontakt und mit Dreistigkeit
alles probiert und losgefahren, unvermittelt Spur gewechselt, Lücken sofern es
sie gibt, auf der Stelle genutzt.
Der
Tages-Autoverkehr hat nichts Braves und schon gar nichts Aufgeräumtes. Alle
fahren wie wild drauflos und trotzdem sortiert es sich irgendwie. Es wird
gehupt. Manchmal sausen Polizei- und Sanitätswagen zwischen all dem durch und
wenn es mal brennt, dann wird es so richtig schwierig, weil an Tagen, an denen
die Metro streikt, was oft genug vorkommt, da kommt kein Feuerwehrauto mehr
durch den Verkehr durch.
Die
Straßen sind einfach komplett dicht. Mittendrin stecke ich dann mit dem
dunkelgrünen Bus fest, hänge mich über die Rehling rüber, nehme Augenkontakt zu
den Fahrern auf, verteile Bonbons und winke und vergnüge mich und nehme Kontakt
auf mit „meinem“ Paris.
Ich
war immer auch am ganz normalen Paris interessiert. Nicht am Paris besonderer
Etablissements, Bars, Jazzclubs oder Edelcafés, sondern am Paris, in dem im
Morgengrauen das Wasser durch die Rinnsteine gejagt wurde, die
Miniteppichrollen zum Wegweiser werden. Am Paris mit blankgescheuertem Macadam
und Chlorgeruch – Pardon – Eau de Javel-Geruch. Ein Geruch, der Sauberkeit und
Frische vermittelt.
Am
Paris der hunderten von Nähereien im Marais, der tausend parkenden Autos,
zwischen denen man sich nicht einmal mehr hindurchdrücken kann, an alltäglichen
Gewohnheiten, an der Ladenschwemme, den ständigen in hellgelb und orange
ausgeschnittenen Pappsternen die Soldes verkünden, 30 bis 50%, alles billig und
ich machte die Erfahrung, dass in Paris selbst die Mode eher eine möglichst
billige Sache ist, für jedermann und die Hautecouture eher was für große
Plakate ist.
Trotzdem,
wenn hinten im Mantel oder im T-Shirt der kursive Schreibschriftschriftzug
Paris drinsteht, ausgesprochen ohne S, dann ist mit der Ware alles in Ordnung.
Wenn man für eine gewisse Zeit in Paris lebt, dann sammelt man Beweise dafür,
dass man dort gelebt hat. Schließlich träumt von Paris die ganze Welt. Wer die
Stadt nicht selber kennt, der kennt ihren Ruf.
Und
von den Modeplakaten herunter erfährt man dann auch, was Sache ist, was im
Frühling Mode sein wird und was zum Rentrée, der Zeit im Herbst, nach den
Sommerferien, die man en Famille en Provence oder en Normandie verbracht hat.
Zumindest
die gutsituierten, alteingesessenen Familien, die dort ihre Landhäuser haben
und sie mit der Großfamilie teilen. Das sind Ferien wie im Kino, wie im
Tati-Film.
Das
Leben in Paris, der ganz normale Alltag ist zumeist sehr straff organisiert und
er läßt nur sehr wenig Raum für Extras – so wie Bummeln gehen, Leute treffen,
besondere Aktivitäten, Gemeinsame Abendessen.
Normal
ist aufstehen, zur Arbeit und zur Schule gehen, Kinder ins Auto laden, bringen
und holen, Mittags auf der Straße oder im Café ein Riesiges Sandwich
Jambon-Fromage, das kaum manierlich zu bewältigen ist, um sechzehn Uhr, zum
Schul- und Kindergartenschluss den Goutter, den Riesenkeks und dann noch kurz
Brot für das Abendessen kaufen und dann nach Hause:
Mit
der Familie Abendessen und im Rahmen der Familie, im Salon bei einer Tisane,
einem Kräutertee, vis à vis eines zumeist nicht genutzten Kamins, einer
Kaminuhr und einem riesigen, alten Spiegel dahinter, der den Raum zu verdoppeln
scheint, in der gediegenen Atmosphäre von vergoldeten Louis Quinze oder Louis
Quatorze-Möbeln, bei gelblich, schummriger Beleuchtung den Abend ausklingen zu
lassen und vielleicht auch mit dem Blick dann doch in ein echtes Kaminfeuer,
was allerdings die Ausnahme ist.
Man
geht nachts nicht raus und nicht auf die Straße, das tun nur Touristen, nicht
die ganz normalen Bewohner von Paris. Deren Leben findet auf einer ganz anderen
Spur und sehr stark eingebettet in den Kreis von Familie und vielleicht noch,
besonders bei jungen Leuten, sehr engen Freunden statt. Ansonsten ist das ganze
nach außen hin eher abgeschottet.
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