Montag, 26. September 2011

Goldener Oktober

Heute schlägt von draussen so etwas herein, das mich erwartungsvoll stimmt. Unabhängig von Menschen. Es ist dieses „Goldener Oktober“-Gefühl. 

Da ist ein bestimmtes, von der Seite kommendes goldenes Licht mit gemeint, da ist ein bestimmter Geruch von angegammelten, taubesetzten Pflanzen, gold-gelben und braunen, aneinanderklebenden zerfallenden Blättern, da ist so eine kühle, frische Luft mit dabei, da sind die unzähligen, regenbogenfarbig-silbrig blinkenden Tautropfen mit dabei – vielleicht schon angefroren, vielleicht auch noch nicht. 

Da sind die letzten Rosen dabei, die es vielleicht noch bis zum ersten Schnee schaffen. Der Geruch von Pilzen. Da sind die Spinnen in ihren fein versponnenen Netzen mit dabei, da ist auch eine Verlangsamung des Lebens mit dabei – weg von allzu großer Aktivität, hin zu einem Vorgang, der sich vollzieht, ohne, das etwas dafür getan werden müsste. 

Wer jetzt noch kein Haus gebaut hat, der baut sich keines mehr... 

Der Oktober läutet einen Zeitraum ein, in dem schon alles getan sein muss und in dem dann die Dinge sich selbst überlassen werden. Eine Zeit des Ablassens von all der Aktivität und davon, etwas neu zu strukturieren. 

Dienstag, 26. Juli 2011

Flötenspieler


Gestern gab ich dem Flötenspieler, der seine indische Flöte spielte. Er sitzt da mit langen Haaren und gekreuzten Beinen wie auf einem fliegenden Teppich. Er sitzt da mit einem langen vergilbten Bart und grün gefärbter Kleidung und er sitzt an vielen Tagen dort, im Schneidersitz am Boden, vor dem Supermarkt und er spielt seine Flöte. Ich habe ihm gestern Münzen in seinen Hut geworfen. Er hat so gestrahlt, seine Augen und er hat sich bedankt und mir ist das Herz aufgegangen. Wie könnte ich mich von einer Flöte nicht berühren lassen? 

Sonntag, 10. Juli 2011

Heimat


Es gibt viele Gründe,
sehr beunruhigt zu sein.
Ich bin sehr beunruhigt.

Ob es die Natur ist,
ein Planet, der sich schüttelt,
die Nacht mit Kugelblitzen und
fürchterlichem Donner durchsetzt.

Ob es die Situation der Menschen ist,
die sich von der Natur getrennt fühlen,
weil sie das Licht anmachen, wenn es dunkel ist.

Ob es um die Profitgier der einen
oder die Gewissenlosigkeit der anderen geht.

Gutmenschentum wird das nicht retten.

Der Rahmen, in dem ich Welt erlebe, der weitet sich.
Das bringt Enttäuschung, Angst,
Unfrieden und Ohnmacht.

Wie soll es weitergehen?

Ich fühle mich unsicher und ungeborgen.

Es ist an der Zeit, erwachsen zu werden.
Und das möglichst ruhig.

Freitag, 27. Mai 2011

Isländischer Mohn und Fleischtomaten


Montag, 16. Mai 2011

Nimm' den Stein und schätze Dich glücklich

Selber in einer Situation zu sein, schließt eigentlich aus, dass diese Situation irgendwie „objektiv“ zu beschreiben wäre. Ich kann sie nur aus dem „Fass“ heraus beschreiben und bestenfalls hinterher aus der Beschreibung erkennen, dass ich im Fass gesessen bin – vorausgesetzt, dass ich ein Fass kenne, schon einmal dringesessen bin. 

Ein Fass wäre hölzern. Das hier hat eher mit Glas zu tun – Glas, nicht in seiner transparenten, zusammenhängenden Form, sondern zerbrochenes Glas, Splitter. 

Ich fühle mich shuttered, erschüttert und verletzt. Ich fühle mich ungeschützt, verletzlich und verwundbar. Für ein Neugeborenes habe ich zuviele Erinnerungen, die mich erschrecken, zuviele Ängste, was alles passieren könnte. 

Ich bin immernoch der Überzeugung, dass ich – was auch immer mich in diesen Zustand versetzt hat – das nur selber herausfinden kann. Miles away from love in a cold, cold, dangerous world, far away from love and care and warmth and protection. In einer kalten Welt aus Felsgestein, in dem nichts mehr lebt, krabbelt und wärmt. Hier ist es nur noch Existenz. Steife Existenz, nackte, bloße Existenz. Mineralische Verbindungen. Die Welt unbewegten Steins. 

Lebendig begraben. Mit Gefühlen, mit Gefühlsfähigkeit unter Steinen, in kalte Steine gebettet, die Steine anflehend – ohne Resonanz und Echo, ohne Widerhall. Nichts dringt durch den Stein hindurch. Er kann hier nichts zurück geben. Der Wind pfeifft. Die Einsamkeit greift. Der falsche Ort, wo alles nach Geborgenheit schreit. 

Wenn ich könnte, ich würde heute nicht aus dem Haus gehen. Ich würde hier bleiben. 

Als ginge es darum, Gestein zu integrieren. Das Höchste und das Tiefste. Die Bewahrer. Das im Stein Gespeicherte, im Stein Gewusste, Verdichtete. Wenn der Stein sein Wissen preisgibt, dann möchte ich dabei sein – tiefere Schichten gibt es nicht. Tieferes Wissen gibt es nicht. Das im Stein gefrohrene Wissen hält ewig. 

Wenn es erwacht, führt es zur Zerschlagung der bestehenden Weltordnung. Da bleibt kein Baustein auf dem anderen. Da gibt es zunächst Zerrüttung, Zerstörung in stehenden Mauern. Das Gefühl der Zerstörung bei einer bestehenden äußeren Struktur. Der Verlust von allem, was sonst Stabilität und ein so genanntes "Gutes Gefühl" gibt, das Gefühl, das alles in Ordnung ist. 

Da ist auch Offenheit. Ein großes Ohr, das in eine vermeintlich garstig gewordene Welt hinauslauscht. In eine Welt, die – ohne Bewusstsein – mir grausam vorkommt.

Eine Welt, die so ist, wie sie ist. Sei mit ihr oder sei gegen sie – Deine Wahl. Schwimm mit der Flussrichtung oder gegen den Strom. Kehr um! Die Welt ist richtig, Du bist falsch. Dich versteht keiner mehr. Du bist verirrt. Halt ein! Kehr um! 

Sag mir mehr darüber. Wie sollte eine solche Umkehr gehen? Wie sollte ich das erkennen? Wie sollte ich erkennen, dass es nun in eine andere Richtung geht? Wie sollte ich meine Gedanken ändern? 

Du musst erkennen, wer sie denkt. Danke dafür und dann ist es gut. Dann entsteht etwas anderes. 

Die steinerne Welt, die Welt kalter, grauer Felsen, kalter grauer, formloser Brocken, denkt sie. Eine Welt, in der nichts mehr wächst. Eine Welt, der die Wärme der Sonne nichts mehr nützt. Das Aufheizen der Steine bewirkt etwas mehr Schwingung, die erlahmt, sobald die Sonne verschwindet. Die steinerne Welt kalter, grauer Felsen, kennt kein Erbarmen, kennt nur ihr Dasein, so wie es ist. Unverrückbar. 

Verwechsel Dich nicht mit der Welt in der Du lebst. 

Aber dies sind die Bilder, die ich hervorbringen kann. 

Das ist richtig. Es sind deine Bilder. Deine Empfindungen. 

Ja, meine Empfindungen. Hier bin ich Täter und Opfer. Hier bin ich Gestein und werde von ihm zerschnitten. Hier zerfließe ich, bin offen und werde zugleich gesteinigt. Steinigung aus kalten, erbarmungslos zerstörischen Gedanken – jenseits von Freude, jenseits von Wärme, jenseits von Geborgenheit und Liebe. 

Muttergestein. Mondgestein. Nächtliches Gestein. Nächtliche Kälte. Fahles Licht. Undurchdingliche Stärke. Undurchdringliche Dichte. Speicher von Menschheitswissen und Gedächtnis. Stein, der am längsten überdauert hat. Stein, der am meisten erduldet hat. Stein, das kalte, namenlose Gewissen der Welt. Kalter Stein, kühlender Stein. Trotzt Wasser, Feuer und Licht und Erde und zerfällt irgendwann doch, nach und nach. Gibt alles preis, reichert mineralisch an, teilt sein Wissen und kann von allem aufgenommen, weitergereicht werden. In zerlegter Form. In zerlebter Form. 

Kompakt kann nur alles an ihm zerschellen, zerschnitten werden. An eine Felswand prallen. Vom Felsen gestürzt. Kalte Felsen, Orte, denen man entkommen möchte. 

Hier kommt der Adler zurecht. Der findet seine Beute auch zwischen den Steinen. Sein Flug krönt die Spitzen der Dächer der Welt, die Zinnen der Welt. Er kennt keine Angst vor Höhe, Weite und Kälte. Sein Gefieder schützt ihn, seine Sicht ist scharf, sein Schnabel packt zu. Er lebt in unwirtlichen Gegenden und ihm fehlt nichts. Er führt die Verlorenen heim.

Mit dem liebenden Blick auf die Steine, erscheint ihr Innenleben und ihre Oberfläche, erscheint ihre nahezu undurchdringliche Dichte, die jeden überfordern würde, der sich ihr nicht liebevoll und geduldig annähert. Eine ewige Oberfläche, mal rauh, mal glatt, dicht, haltbar, schützend, stumpf schillernd und allem trotzend.

Steinhäuser, Steiniglus, Steinhütten. Die Bank auf der Du sitzt. Der Tisch von dem Du isst. Kind der Steinzeit. Der stumme Begleiter Deiner Tage, der als Bruchwerk auf Deinem Regalbrett schweigt. Steinkinder, rollender Kies und begehrte mineralische Götter als Schmuck für Deine Finger und Dein Haupt. Stein erglänzt und Stein weiß mehr als alle anderen. Ist Heilmittel und zutiefst irdische Substanz. Kommt direkt von der nährenden Mutter - nicht vom Himmel, sondern von der Erde. Von der unbedingten Mutter, solange Du ein Mensch bist, bestehend aus Elementen. Ohne Stein wärest Du nicht.

So dank der mineralischen Welt.

Stein wird zu Brennstoff, zu Wärme in einer unwirtlichen Lage. Nimm' den Stein und schätze Dich glücklich. Beginne voller Vertrauen, Deine Weisheit zu befragen. Die kommt vom Stein und von dieser Welt. 

Mittwoch, 11. Mai 2011

Die Sonne scheint

Ob ich böse bin oder gut?
Die Sonne fragt nicht danach. 
Sie wärmt, wer in der Sonne steht.

Ob ich böse bin oder gut? 
Der Mond fragt nicht
und sieht auch nicht nach.

Die unpersönlichen Kräfte umgeben uns. 

Die Erde, auf der wir stehen,
sie nährt die Pflanzen und die Bäume. 
Sie gibt Öl, Kohle, Gold und Silber
und noch mehr. 

Sie fragt nicht, ob der, der danach gräbt, 
böse ist oder gut. 

Der Himmel zeigt sich,
sobald wir den Kopf zu ihm wenden. 

Mal erscheint das Reich der Lüfte hellblau,
mal schwarz, mal dunkelgrau, dunkelblau,
mal sternenüberseht, wolkenverhüllt,
von wolken gestopft, die Höhe gestutzt,
wie eine Trennschicht zwischen oben und unten. 

Aber all das, es ist nicht ein Fünkchen persönlich. 
Die Luft ist zum atmen da und kein Feuer fragt nach, 
ob Du moralisch gut gehandelt hast oder nicht. 

Wenn Du Feuer machen willst,
dann brauchst Du ein Feuerzeug 
oder etwas, mit dem man Feuer machen kann 
und die Kenntnisse, wie man Feuer macht. 

Aber es fragt Dich nicht,
ob Du Dich dabei gut fühlst oder nicht. 

Auch das Wasser fragt nicht. 
Es ist vergiftet oder rein. 
Es ist die Folge,
von Zuflüssen und Kreisläufen. 

Hast Du Gift reingekippt,
dann ist es giftig und vergiftet. 

Aber es ist keine Moral dahinter. 
Einzig das Gesetz des Wirkens,
des Aufeinanderwirkens. 

Hier gibt es keine Verurteilung
für die Kleinen, Gemeinen und Hässlichen. 
Keine persönliche Rache.

Nur Ursache und Wirkung. 
Nur Folgen. Das reicht völlig. 

Die Sonne scheint für alle. 
Der Mond ist auch da. 

Wasser, Luft, Erde und Feuer sind da. 
Ohne die wären wir nicht. 

Und ohne Zündfunken in uns selbst auch nicht. 

Pflanzen wachsen. 
Vögel zwitschern
und manche lernen von den Klingeltönen. 

Gestirne sehen wir wandern. 

Katzen streichen um das Haus
und um die Beine
und wollen gefüttert werden. 

Sonst jagen sie Vögel und Mäuse.
Sind sie böse oder gut? 

Die Sonne wärmt.
Es taut. Es kräftigt.
Es wird Licht und wirft Schatten. 

Das ist alles nicht kompliziert, moralisch auch nicht. 

Es ist Zeit dem Licht
und seiner Gedankenlosigkeit zu fröhnen. 

Die Sonne scheint.










Dienstag, 3. Mai 2011

Minigeschichten im Clavichord - Kleines Mädchen

Kleines Mädchen, komm’ zu mir! 
Kleines Mädchen, ich warte hier!

Kleines Mädchen, komm’ zu mir 
ich warte hier so lange schon. 
Ich seh’ Dich von weitem, 
ich ahne Dich in meiner Nähe. 
Kleines Mädchen, vom fernen Stern, 
hol’ mich hier ab! 


Kleines Mädchen, da kommst Du angelaufen... 
im rosa Kleid in weißen Pantinen, 
wie schön bist Du anzusehen! 

Kleines Mädchen, feines Mädchen, 
liebes Mädchen, laß’ Dich laufen, 
mit Dir möchte ich mein Leben erleben, 

Dir möchte ich was kaufen, 
auf dem Rummelplatz, zwischen Zuckerwatte, 
Losbude, Karussell und Riesenrad. 


Mit Dir möchte ich mein Leben teilen. 
Mit Dir möchte ich geniessen, 
lass uns nachsehen, wie die Blumen sprießen. 

Kleines Ding, ich hab’ Dich so gern. 


Kleines Mädchen, ich sehe Dich schon. 
Kleines Mädchen, gehe mit mir, komm’ mit mir! 
so lange schon habe ich auf Dich gewartet!


Mittwoch, 6. April 2011

Geschichten aus meinem Clavichord - Der findige Prinz

Zwei Prinzen kamen des Nachts, unterwegs mit unbekanntem Ziel, auf einem mondbeschienenen Schlosshof an.

Das Schloss schien alt und verwunschen, mit vielen Schnörkeln und Zinnen. Efeu rankte sich an den Wänden hoch und um die zahlreichen Türmchen flogen kleine Turmfalken, die einfach keine Ruhe fanden. 

Die beiden Prinzen stiegen von ihren Pferden ab und waren glücklich nach dem langen Ritt dieses Schloss gefunden zu haben. 

Inmitten des Schlosshofs befand sich ein tiefer Brunnen und der ältere der beiden Prinzen ließ den Eimer hinab und holte frisches Wasser aus dem Brunnen und gab seinem Pferd davon zu trinken. Dann nahm er auch sich selbst, wusch sich das Gesicht und den Staub von den Händen.  Auch der jüngere Prinz freute sich über das frische, klare Wasser und rieb auch sein Pferd damit ab. 

Der ältere Prinz und die beiden Pferde legten sich gleich bei dem Brunnen zum Schlafen. Das Schloss wirkte so verlassen und er wollte die Ruhe, in dem es dunkel vor ihm stand, nicht stören. Er wickelte sich in seine Satteldecke, legte sich zwischen die beiden Pferde, die ihn wärmten und schützten, und fiel alsbald in einen tiefen Schlaf. 

Der jüngere Prinz jedoch machte sich auf den Weg. Von weitem hörte man die heimatlosen Käuzchen rufen. Ansonsten war die Nacht sternenbeschienen, ruhig und klar. Nichts bewegte sich mehr, da auch die Turmfalken sich beruhigt hatten. Kein Windhauch brachte das Efeu zum rascheln und auch alle anderen Tiere im umgebenden Wald schienen zur Ruhe gekommen zu sein. 

Weit und breit war es nur der kleine Prinz, der noch unruhig war und sich nicht zu seinem Bruder schlafen legen konnte. Er ging im Schlosshof umher, probierte die Türen und suchte nach einer Tür, mit der er das Schloss betreten konnte. 

Es dauerte eine Weile und kurz bevor er aufgeben wollte, fand er eine winzige Türe, die offen war. Tief musste er sich ducken, um hier hinein zu kommen. Doch hinter der Türe befand sich ein hoher, gewölbter Gang und er konnte sich auf der Stelle wieder aufrichten. 

Neben der Tür befanden sich in einer Mauernische auch eine Kerze und Zündzeug, so als hätten sie auf  den jungen Prinzen gewartet. Ein freundliches Schloss. Er fühlte sich willkommen, nicht wie ein Eindringling. 

Er zündete ganz selbstverständlich die Kerze an und ging ebenso selbstverständlich den hohen Gang entlang, besah sich die Bilder der Könige und Königinnen an den Wänden, bis er plötzlich und von ferne, ganz leise Töne hörte: Ein Lied, behutsam und vorsichtig, wie zur Übung und versonnen auf der Laute gezupft. 

Natürlich wurde er auf der Stelle sehr neugierig und ging den Klängen nach, die ihn so wundersam anlockten und bezauberten. Er musste viele Treppen steigen, sehr oft um die Ecke gehen und der Klang blieb leise, setzte sich aber beharrlich immer wieder bis zu seinem Ohr durch. 

Er folgte ihm immer weiter und weiter. Schon längst hatte er die Orientierung im Schloss verloren. Bis er schließlich vor einer Türe stand, wo die Laute deutlich zu hören war. 

Vorsichtig klopfte er an die Türe und diese öffnete sich wie von selbst. Er blickte in ein kerzenerleuchtetes Zimmer hinein und sah ein kleines Mächen in einem rosa Kleid, das auf einem Stuhl saß und seine Laute zupfte. 

Es sah auf, sah ihn an, als hätte es ihn schon lange erwartet. Es war wie in einem Traum, in dem zwei Kinder gemeinsam erwachten. Ein Prinz hatte seine lange gesuchte Schwester wiedergefunden, die kleine Schwester ihren Bruder. Schon lange hatte sie ihr Lied gespielt, damit der Bruder sie endlich wiederfindet.

Mittwoch, 30. März 2011

Menschen in einer verunsicherten Welt

Ich denke an Menschen im Umkreis von Fukushima.
Ich denke an Bilder der Zerstörung, in der sie leben.
Ich denke an ihren Mut, ihre Kraft, ihr Durchhaltevermögen
und an ihren Willen zu überleben.

Ich denke an jene alte Frau, die von sich sagte:
„Ich werde nirgendwohin gehen.
Ich habe den zweiten Weltkrieg überlebt,
und ich habe mir fest vorgenommen auch
dieses hier zu überstehen.“

Ich denke an Menschen in Fukushima,
im Umkeis der strahlenden Brennstäbe,
die den Boden unbewohnbar,
das Wasser ungenießbar machen.

Ich denke an Menschen in Japan.
An all jene, die das Erdbeben überlebt haben
und nun in den Trümmern ausharren.

Ich denke an Menschen in Japan,
deren Zukunft ungewiss ist.

Ich denke an ihr Heimweh,
nach einer verlorenen Welt.
Und an jene, die lieber in ihre Häuser zurückkehren,
als in Turnhallen abzuwarten.

Ich denke an Menschen,
die tief in einer verlorenen Heimat wurzeln
und an Kinder, die weiterspielen.

Ich denke an Menschen in Japan,
deren Schicksal so aufgerissen, erschüttert
und unabsehbar offen ist.

Ich wage zu hoffen,
dass sich in und mit Menschen
Wege auftun.

Und ich denke an jene,
die bedingungslos helfen.

Ich denke an Menschen im Umkreis von Fukushima,
und ich denke an Menschen in
einer erschütterten und verunsicherten Welt.

Dienstag, 29. März 2011

Minigeschichten im Clavichord - Die Geschichte vom Puppenkasper

Der Puppenkasper hüpft herum,
pfeifft sein Lied, gar laut und garstig.
Er hüpft herum, dass sich die Balken biegen,
heftig und eckig tut er sich in den Hüften wiegen,
hölzern seine Bewegungen,
hölzern sein Reigen.

























So zieht er durch die Gassen und
kann den Lärm nicht lassen.
Geht allen auf den Nerv
plärrt, sägt und pfeifft,
so dass alle die Fenster schließen und
den Narren ziehen lassen.

Bis eines Tages,
völlig unvermittelt,
etwas anders wird.

Man kann es nicht sagen;
keiner kennt den Grund.
Der Grund ist völlig unbenannt.

Der Puppenkasper,
der wird leiser,
der zieht sich zurück
in einen dunklen Keller.

Dort bleibt er für Wochen,
ohne Licht und ohne Lärm.
Er schweigt und läßt den Kopf ruhig hängen.
Er wartet und denkt und erfährt,
was er nicht gemacht.

Er sitzt da und lacht für sich allein,
zieht niemanden in seinen Lärm hinein.

Er denkt nach, im Dunkeln,
und erfährt die ganz Anderen,
die in ihm schlummern.

Er erfährt von Gefühlen,
von denen er nicht wusste,
dass er sie hat und wird ganz
und still und hört zu.

Der Puppenkasper kommt von selber
aus der Dunkelheit heraus,
zieht wieder auf die Straßen
und spürt ein anderes Lied.

Ein Lied voller Zärtlichkeit und leiser Töne.

Er erinnert sich an die Puppenprinzessin.
Doch bleibt er für sich und spielt sein Lied.

Ein Lied, von dem ihm niemand zuvor erzählt hat,
ein Lied, das nie zuvor in ihm erklang.

Er spielt sein Lied ganz sanft und leise.
Eine vertraute, so ganz natürliche Weise.

Er denkt an die verstorbene Mutter.
und spielt weiter, so ganz fein und weise.

Aus dem Wald, da kommen die Tiere,
wispern und flüstern,
sie hören ihm zu und bewundern
den verzauberten Klang.

Der laut lärmende Puppenkaspar ward nicht mehr;
er zieht zurück ins Dorf
und spielt sein neues Lied.

Von überall her kommen die Kinder herbeigelaufen
und tanzen zu seinen Klängen.

Sogar die Prinzessin ist neugierig geworden,
verkleidet sich als Gassenkind und kommt herbei,
lauscht und tanzt, schließt die Augen und vertraut.

Als sie die Augen öffnet,
sieht sie verwandelt einem Puppenprinzen in die Augen
und sieht ihn zum ersten Mal.

Sonntag, 27. März 2011

Atomkraft – Nein Danke!

Großdemo(nstration) in München. Gestern. Bei strömendem Regen.

Viele Teilnehmer waren von außerhalb, mit dem Zug in München eingetroffen. Transparente. Fahnen. Fähnchen. Aufkleber. Brust- und Rückenverkleidungen. Kleidung in Gelb und Rot. Fahnen in Grün. Parolen, sehr viele Parolen.

Demonstranten um die 30, die aussahen, wie Demonstranten vor dreissig Jahren. Damals, als die grüne Raupe schlüpfte. Trillerpfeifen.

Und es wurde demonstriert. Kinder hatten mit gelben, schwarzen und roten Wachsmalkreiden Bilder gemalt und trugen sie nun vor sich her: Die lachende Sonne und das Zeichen für radioaktive Strahlung.

Bei dem Regen waren diese Bilder und auch so manch anderes, selbstgefertigtes Pappschild schnell aufgeweicht. Farben liefen wie zerlaufene Schminke herunter.

Man formierte sich am Hauptbahnhof, lief durch die Innenstadt, bis zum Odeonsplatz, um dort bei der Kundgebung anwesend zu sein. Man lief durch die Fußgängerzone, zwischen frühlingshaft dekorierten Schaufenstern hindurch.

Ich hatte mich mit einer Künstlerin verabredet. Wir hatten uns vorgenommen, bei der Demonstration präsent zu sein. Was eine Demonstration ist, das hatte ich bislang nur im Fernsehen oder von weitem gesehen.

Um uns herum wurde gepfiffen, gebrüllt, gerasselt, getrommelt und die Vuvuzelas geblasen. Sehr laut.



Fahnen wehten. Transparente flatterten. Und je näher wir der eigentlichen "Kundgebung" kamen, um so heftiger wurde der Regen. Der Himmel war wolkenbruchsgrau und genau dieses Grau ist wolkenbruchsartig heruntergekommen.

Der Odeonsplatz war mit Demonstranten vollgelaufen. Von allen Seiten, strömten Menschen ein und der Platz hatte sich von vorne nach hinten aufgefüllt. Polizisten sperrten die seitlichen Zugänge ab. Es waren Lautsprecheranlagen an Kränen abgehängt worden und es war eine Frauenstimme zu hören:

Sie sprach von "unserer aller" Gefühle, von Wut, von Ohnmacht, Trauer und dergleichen mehr. Von "unseren Gefühlen" gegenüber der Situation, gegenüber den Bösen, den Machthabern, den Entscheidern. Sie sprach von jenen Gefühlen, die uns auf den Platz gebracht hätten und sie forderte uns auf, "diese Gefühle zuzulassen", diesen Gefühlen "nachzuspüren", sie "wirken zu lassen".

Dann ging es weiter: Parteipolitische Redner, Religionsvertreter, die ihre Sätze so formuliert hatten, als würden auch sie für alle sprechen. Wir fordern. Wir wollen. Wir verlangen. Sprecher parolieren ins Mikrofon, ein Kind schreit auch etwas rein und immer wieder: Massenapplaus und das Wort: Ab - Schall - Ten!

Ich stand mit A. ziemlich weit hinten. Um uns herum die Leute waren schon stiller. Hier hat niemand skandiert. Die Stimmung war anders. Man stand für sich.



Das, was hier war, war noch nicht so klar. Junge Mädchen fotografierten sich gegenseitig. Ein Familienvater rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er schob einen Kinderwagen. Seine Frau hatte ein kleines Mädchen an der Hand. Das Mädchen fragte immerzu, was denn eigentlich los sei.

Es hat eine Schweigeminute gegeben und die hatte es in sich. Es wurden Gefühle präsent, Gefühle über etwas, das geschieht und das nicht mehr zu richten ist. Gefühle gegenüber einer Situation, die nicht ohne Wandlung zu lösen ist. Das Schweigen war laut und in dem Schweigen waren sich alle Anwesenden nahe. Unterschiedslos.

Bei den Kundgebenden waren keine unabhängigen, irgendwie normlen, menschlichen Stimmen dabei. Mit den lauten Reden der Redner wurde im Grunde niemand angesprochen. Die, die lärmten, wähnten sich im Recht und auf der richtigen Seite und sie lärmten abstrakte Größen an und malten Teufel an die Wand.

In der Menge sind aber auch andere gestanden. Solche, die für sich selber da standen, für Überlegungen, die noch nicht so ganz klar sind. Solche, die für ihre Unsicherheit, Betroffenheit und Angst standen, für Fragen, die sie noch nicht stellen und Antworten, die sie noch nicht geben können. Solche, die einfach da standen und geschwiegen haben.

Ich war auch da und ich war traurig. Meine Angst und mein Unbehagen gegenüber den Ereignissen im Atomkraftwerk in Japan kennen keine Grenzen. Eine Millisekunde der Vergegenwärtigung, reicht vollkommen aus.

Verstrahlung kennt keine Grenzen. Verstrahlung kennt keinen Einhalt. Verstrahlung ist nicht auszuschließen und nicht rückgängig zu machen. Es gibt keine "Wiedergutmachung". Der Regen fällt.

Ich erinnerte mich an eine Frau, die mir erzählt hat, dass sie nicht mehr mit nackten Füßen über eine Wiese laufen kann. Sie bekommt Brandblasen an den Füßen.

Nun stehen wir da und wissen nicht, welche Botschaft uns der Regen bringt.

Donnerstag, 24. März 2011

Minigeschichte aus dem Clavichord - Der Tag fängt an und geht vorbei

Es ist Morgen.
Der Tag fängt an.
Die Sonne ist aufgegangen,
wie ein unbeschriebenes Blatt.

Niemand weiß, was er bringen wird.
Schritt für Schritt, hinein in den Tag.
Entscheidungen werden getroffen.
Puzzleteile fügen sich zusammen.
Ein Bild entsteht.

Der Höhepunkt ist überschritten.
Der Tag neigt sich zu seiner anderen Seite,
dem Abend zu.

Wir gehen weiter.
Es dämmert.
Wir erwachen hinein,
in den Tag der Nacht,
den Traum,
der uns dem nächsten Tag näher bringt.

So häufen sich die Tage,
werden zu Wochen, Monaten, Jahren.
Und wir sind geborgen in den Abläufen.
Wir sind nicht allein.

Wir stehen in der Ordnung der Tage.
Sie wiederholen sich auf verschiedenen Ebenen.

Wir leben auf einer Spirale,
drehen uns dem Himmel entgegen,
mit geöffneten Herzen.

Es wird Abend,
ein Tag vergeht,
der begann,
wie ein unbeschriebenes Blatt.

Donnerstag, 10. März 2011

Minigeschichte für mein Clavichord - Ein Stern fällt auf die Erde

Es zeigt sich ein besonders hell blinkender Stern
mitten im Netz der Sterne,
die im dunklen Nachthimmel stehen.

Vorwitzig blinkert er.
Übermütig morst er geheime Zeichen.
Er erscheint besonders groß, hell und strahlend.

Er fällt auf. Man sieht ihn,
sein fröhliches, unbekümmertes Blinkerspiel,
so ganz da ganz oben.

Bis er sich plötzlich aus dem Gefüge löst und
schillernd abstürzt, der Erde entgegen.
Fällt und fällt und lange fällt, immerzu den langen Weg fällt.
Vorbei das lustige Spiel in Sicherheit.
Er fällt und nichts hält ihn auf.

Während er fällt, wird er immer irdischer.
Nimmt zu an Gewicht, wird Ding,
wird Gegenstand. Das Blinken verlischt.
Schwerkraft fängt ihn ein,
er wird zum Stein.

Nun besteht er allein unter Steinen,
sieht wie Steine rollen und
blickt in der Nacht zum Himmel,
zu seinen himmlischen Brüdern,
nach denen er sich unendlich sehnt.

Blickt den weiten Weg nach oben
und wünschte sich, man könnte ihn sehen.

Am Himmel blizt ein kleiner Stern ihm zu,
morst geheime Zeichen.

Der Stern versteht und
es ist, als hätte der ferne Bruder
mit dem Auge gezwinkert und
ihm einen Gruß geschickt.

Mittwoch, 9. März 2011

Minigeschichte für mein Clavichord - Mit dem Ohr an der Baumrinde

Ein kleines Mädchen steht bei einem Baum.
Steht mit den Füßen fest auf dem Boden und
schlingt seine Arme um den Stamm,
schmiegt seinen Körper daran.

Es hält sein Ohr an die Baumrinde,
drückt es ganz dicht an den Baum.

Es hört in den Baum hinein.
Hört das Schnarchen der Käfer unter der Rinde.
Hört ganz tief in das Innere hinein.

Es hört hinein in den Kern,
in den ersten von hundert Ringen,
hört in die Geschichte von fünfzig Ringen.
Hört in die letzten Jahre,
die äußeren Ringe,
bis hinein in die Gegenwart,
und dann raus,
bis hinaus in die nächste Zukunft.

Es folgt den Lebenssäften des Baumes,
die tief aus der Erde,
aus den weiten Verzweigungen der Wurzeln,
den Stamm entlang
aufsteigen,
weit hinauf,
bis in die Zweige,
in die Zweigspitzen,
bis in die fest eingewickelten,
sicher verpuppten Knospen.

Es hört hinein,
in die Blüten von morgen,
in das Kommen und
die zukünftigen Blätter.

Es hört mit den Käfern und Würmern
in der Rinde, hinein,
lauscht bis in die äußersten Spitzen
im hohen Wipfel, der sich wiegt,
um sein neues Kleid
hervorzubringen.

Das Mädchen lauscht hinaus
in den Baum und in die Welt.

Der Frühling kommt.
Es vertraut der alten Weise.

Es lauscht, der Baum ächzt,
wird ganz still und es vertraut.

Mittwoch, 2. März 2011

Frühling

Die Zeit vergeht; es wird licht.

Die Zeit vergeht; wir sehen uns nicht.

Dienstag, 1. März 2011

Minigeschichten für mein Clavichord

Ich hatte eine wunderbare Unterrichtsstunde am Clavichord. Meine Lehrerin hat mich gefragt, was ich in der Stunde machen möchte. Ich antwortete ihr, dass meine Lieblingsübung sei: „Guck mal was die Finger machen“. 

Das Notenspielen fällt mir sehr schwer. Jeder Takt ist mühevoll, aber das freie Spiel, das fällt mir leicht. Also lege ich los. Ich beginne einfach, die Finger auf die Tasten zu legen und spiele. Fast jedesmal staune ich und bin überrascht, dass so eine schöne Musik dabei herauskommt. 

In der linken Hand legte ich den Tonraum mit einer Quinte fest, in der rechten begann ich eine Melodie dazu zu spielen. Wie es mir gerade einfiel. Ich blieb immer im gleichen Tonraum, d.h. ich wechselte die Quinte zunächst nicht, bis meine Lehrerin mich dazu aufforderte, Tonraumwechsel in mein Spiel zu integrieren. 

Das tat ich – allerdings wollte ich meine Lehrerin nicht langweilen – also wechselte ich die Tonräume schneller, als mir lieb war und als ich es empfand. Sie bemerkte es und ich spielte noch einmal – blieb so lange wie ich wollte und wechselte wie ich wollte, spürte mich in Übergänge, Richtungen und in meine Wünsche hinein: 

Was möchte ich hören? Wo möchte ich hin? Was könnte das Ziel sein? 

In einem nächsten Schritt schlug sie vor, die Tonräume jeweils mit gesprochenen Worten zu benennen. Immer nur kurz: Erst habe ich gemeint, ich bringe kein Wort heraus, dabei waren die Bilder für den gespielten Tonraum schon in meinem Kopf. 

Nachthimmel. Sterne blinkern. 
Funkeln, strahlen in der Dunkelheit auf. 
Sie schauen von oben zu uns nach unten. 

Wir sehen zu ihnen auf. Geborgenheit. 

Ein altes Schaf am Himmel träumt. 

Und was ist das? (Ein unglaublich schiefer, weil ungestimmter Ton im Bass.) 

Nicht einzuordnen. Man weiß es nicht. 

Es stört. 


Bis ich das erste Wort gesagt habe, hat es eine Weile gedauert. Das sprechen war mir peinlich. Doch dann habe ich es gesagt, und es war mir als würden die weiteren Worte geboren. Es waren Geburten und ich fühlte mich in meinen Worten vollkommen unabhängig von Befindlichkeiten und vom Kreisen um Sorgen und Probleme. 

Es war durch einen angebebenen Tonraum ein Bild entstanden und aus dem Bild weitere Bilder. Sie wurden geboren und erfüllten mich ganz und gar. 

Ich sagte zu meiner Lehrerin: Ich könne aber nicht anders, als jene Bilder zu nehmen, die ich eben hätte – egal wie abwegig die seien. Sie sagte: Ja, genau das, was kommt. (Ohne Zensur.)

Und sie erzählte mir von der alten Bardenkultur spontan erzählter Geschichten. Am Tag nach dieser Stunde, fiel mir auf dem Weg zur Arbeit noch eine weitere Minigeschichte ein:

Fritzchen geht mit schlechtem Gewissen in die Schule. 
Er hat seine Hausaufgaben nicht gemacht. 
Die Lehrerin bemerkt es, 
Fritzchen hat Angst. 
Die Lehrerin schimpft nicht. 
Sie ermahnt Fritzchen, seine Hausaufgaben zu machen. 
Fritzchen ist erleichtert und verspricht, seine Hausaufgaben zu machen. 


Warum auch immer, einem so etwas einfällt? Ich weiß es nicht. 
Ich werde auf jeden Fall weitermachen und diese Einfälle sammeln. 

Donnerstag, 24. Februar 2011

Wach endlich auf!

Das ist, als hätte gestern jemand gewaltig an mir gerüttelt. "In welcher Welt lebst Du eigentlich? Mensch, werd’ endlich wach!"

Mir ist, als hätte sich in den letzten Stunden mein Lebensgefühl völlig geändert. Die Welt des schönen Scheins ist zusammengebrochen. 

Meine Puppenwelt, zusammengesetzt aus Insiderdramen und Soap-Operas, fand in einer Blase statt. Eine Blase vermeintlicher Sicherheit, im Glauben daran, oder besser in der vagen Hoffnung, dass doch alles immer so weitergeht wie bisher. In einer Blase, in der ich am liebsten gar keine Nachrichten mehr gehört und mich auch sonst nicht informiert habe. 

Ich habe mich um nichts gekümmert, was darauf hindeuten könnte, dass es einmal nicht mehr so weitergeht wie bisher. Auch wenn es einen Teil in mir gab, der sehr genau wusste, dass der Tag X kommen wird: Ich hatte immer noch die Hoffnung, dass vielleicht doch noch alles gut oder glimpflich ausgeht. 

Auch waren Denkmuster am Werk, die diese Sache, das Bewusstsein eines bevorstehenden Zusammenbruchs, in eine ferne Zukunft schieben. Alles fand wie hinter einer Wand statt, die mich davor schützte, den Konsequenzen meines Wissens ins Auge zu sehen und entsprechend umzusetzen. 

Dieses Bewusstsein für eine Scheinwelt, in der ich sicher und geborgen bin und in der für mich gesorgt wird, ist mit einem mal zusammengebrochen: Niemand wird mich retten! Ich bin verantwortlich für mich. Auf niemanden ist Verlass, nur auf mich selbst. Ich muss für alles sorgen, auch dafür, was ich tu, wenn das System, in dem ich derzeit lebe, zusammenbricht. 

Man muss sich informieren. Nicht nur in den öffentlich-rechtlichen Medien. Zumindest sollte man wissen, wie die öffentlich-rechtlichen Nachrichten und ihre Zusammensetzung einzuschätzen sind. Im Internet gibt es einige sehr engagierte Kräfte, die sich um Aufklärung bemühen. Die sich darum kümmern, dass einem die derzeitige politische und vor allem wirtschaftliche Situation vor Augen geführt wird, darunter z.B. auch die Bedeutung all der Aufschwungsnachrichten. Ich gebe zu, obwohl ich wusste, dass das mit dem Aufschwung, so wie es dargestellt wird, nicht stimmen kann, habe ich gehofft, dass es doch irgendwie stimmt und dass alles nicht so schlimm ist.

Man muss Bescheid wissen. Man kann nicht davon ausgehen, dass alles immer so weitergeht wie bisher. Das Gefühl, das ich am Nachmittag des 11. September 2001 hatte, ein Gefühl in dem die Welt, so wie ich sie kenne aus den Angeln gehoben worden ist, das unheimliche Gefühl, dass es vollkommen ungewiss ist, wie es nun weitergeht und vor allem die totale Abhängigkeit von der bestehenden, städtischen Infrastruktur, ist nun wieder vollkommen präsent. 

Damals war ich vollkommen unfähig, eine Situation, in der unsere Welt aus den Angeln gehoben worden ist, überhaupt irgendwie weiterzudenken. Das war wie in einem Alptraum: Man steht vor dem Lauf einer Waffe, die jederzeit abgedrückt werden kann. Und dann wird man wach. Oder es wird abgedrückt, alles wird schwarz und man wird trotzdem wieder wach. 

Nun finde ich Möglichkeiten der Vorsorge, um die ich mich so gut wie möglich kümmern werde. Keine angenehme Aufgabe. Aber notwendig. Der Schutzzaun aus vagen Hoffnungen „Ach, jemand wird sich schon um mich kümmern“ ist eingerissen. 

Niemand außer mir ist für mich zuständig. Niemand wird sich darum kümmern. Niemand wird Vorsorge treffen. Niemand wird sich auch nur einen Deut’ darum scheren, was mit mir ist oder nicht ist. 

Ich muss diese Gefühle der Schutzlosigkeit und Abhängigkeit ernst nehmen und für Abhilfe sorgen.

Es ist ein Teil meiner Realiltät, den ich bislang nicht realisieren konnnte und immer wieder vollkommen verdrängt habe. Ich wollte davon nichts wissen, und was ich wusste, das konnte ich nicht weiterdenken, geschweige denn in eine Tat, in Vorsorge umsetzen, in den Erwerb von Kenntnissen und Gütern, die mich unabhängiger machen. 

Ich habe an meiner vermeintlichen Sicherheit festgehalten, obwohl ich mich ständig unsicher fühlte. Ich habe Teile meines eigenen Wissens verdrängt – unbewusst oder nur halbbewusst. Und ich bin zeitweise in Fatalismus verfallen: Was kommt, das kommt, da wird sich dann schon ein Weg finden. Zufällig. Oder wenn das passiert, falle ich tot um, dann ist alles vorbei. Da brauche ich keine Vorsorge mehr zu treffen. Nun geht es darum, das bislang "Undenkbare" zu denken.

Dabei geht es auch um das ganz "normale" Leben - nicht nur um den Ausnahmefall. 

Mein Leben unter Soap-Operas war mir schon aufgefallen. Auch, dass ich überhaupt keine Nachrichten mehr hören wollte, nichts mehr von dieser Welt um mich herum erfahren wollte. Immer Leben im „Das wird schon irgendwie“ und ansonsten wechseln zwischen Bohlen, Schwiegertochter gesucht und Lena Liebe meines Lebens und darauf warten, dass der Traumprinz kommt, mich zu retten. 

Etwas ist mit mir geschehen, dass das so nicht mehr funktioniert. Ich weiß nun, dass ich ganz alleine zuständig bin, mich zu kümmern, zu informieren, Vorsorge zu treffen, für mich zu sorgen und zu mir zu stehen. 

Samstag, 8. Januar 2011

Gelbe Blume

Vorspiel
Eine Hängebirke steht ganz nah bei den verlorenen Häusern. Ihre Blätter sind leuchtend gelb. Sie sehen aus wie an Schnüren aufgefädelte Herbstdrachen, die nun herabhängen und gelegentlich im Wind wispern.
Gras wuchert wild, satt, saftig und langhaarig. Kreuz und quer wirft es Bögen, beugt sich über den Feldrand, als hätte es das letzte Wort und beschützt nebenbei die dunkle, fette, nackte Erde.
Goldruten stehen stolz und ehrwürdig da, wie rostige Industriedenkmäler. Ihr letzter Schmuck ist ein gefiederter Kopfputz aus dem Kostümfundus einer prächtig ausgestatteten Barockoper.

Auf dem Weg gehächselte Holzstücke, im Unterholz Glasflaschen, Plastikmüll und rostige Konservendosen. Ein violetter, verrotender Gummihandschuh hält sich als verblühte Blüte in den Zweigen einer Heckenrose.
Es riecht nach Holz und Erde und ist so unerwartet warm, dass die Erde noch einmal tief und duftend ausatmet. Silbrig, verführerisch zwinkern Spinnfäden.
Die blühende Blume
Kaum sind die S-Bahn-Gleise überquert, bin die Böschung zur Wiese auf der anderen Seite hochgeklettert, schon steht sie da, die Blume:
Alleinstehend, leuchtend gelb, blühend, heute, am 5. November, um halb eins am Nachmittag. Die Sonne scheint, die Blume steht da. Für mich die letzte blühende Blume hier auf dieser Wiese. Ich leg mich zu ihr hin. Wie ein Feldforscher, der mit ihr auf Augenhöhe sein möchte.
Ihre Blüte hat 13 langfingrige Blütenblätter. Sie sieht aus wie eine Sonnenblume im Miniaturformat. 13 schmale Flügel um ein goldgelbes Blütenköpfchen, ein Blütenknopf, aus dem winzig und zart, aus kleinen gezackten Kelchen, geschnörkelt eingerollt wie Widderhörner, paarweise die Fruchtstempel herausgucken und als Locke locken. Mit dem bloßen Auge kaum zu sehen. Der Stengel ist gerade gewachsen, verjüngt sich ein wenig nach oben hin, ist aber nicht viel dicker als ein Grashalm. In der unteren Hälfte ist er dunkelrot gefärbt, nach oben hin nimmt die rote Färbung ab, verschwindet aber nicht ganz.
Die Blätter sind lang und schmal. Um ca. 1-1,5 cm versetzt, wachsen sie in alle Richtungen, entlang des Stempels. In der unteren Hälfte der Pflanze auch die Blätter dunkelrot, weiter oben wie auch der Stengel eher hellgrün. Die Blüte leuchtet, strahlt mit ihren zarten Blättchen der tiefstehenden Sonne entgegen, leuchtet auf im Licht, das auf sie fällt und lässt sich kein Gramm davon entgehen. Ihre Blätter sind himmelwärts gerichtet. Der Stengel ist von parallelnervigen Versorgungsgefässen durchzogen.
Neben der Blume
Neben der Blume befindet sich eine Ansammlung von sieben aus dem Boden auftauchenden Kieselsteinen, die teilweise mit Kalkrändern bewachsen sind, so, als hätten hier Korallen eine erste Schicht abgelagert. Moos wächst zwischen den Steinen und daneben auch Klee, mit Blättern, die weniger als 5 Millimeter Durchmesser haben.
Das Lied oder das Leid der alleinstehenden Blume (hier spinnt der Autor ein wenig herum, das erlaubt er sich nun)
Das Lied oder das Leid der alleinstehenden gelben Blume, die da steht, den Besucher empfängt und blüht, wenn alle anderen schon verblüht sind. Sie lächelt Dir entgegen.
Trockene Haut, Ekzeme, fiebersenkend, Grasmückentraum, beliebsam, würzend würzig die Wurzel und gut fürs Haar. So kommen einfach die Worte, das eine aus dem anderen hervor, kurz und angebunden.
Blüte vom Wind bewegt, schaukelnd, nachgebend und vor allem eines: Lächelnd im Land des Lächelns
 Tiere
Besucht wird sie von 1 Biene, 1 Schlupfwespe und 1 Wespe, während 1 winzige Mücke auf dem Notizbüchlein der Feldforschungs-abteilung landet und dort unschlüssig spazieren geht. Grillen im Gras versteckt, zirpen in verschiedenen Tonhöhen und Rhythmen. Sie kommen allmählich näher, zeigen sich aber nicht. Es geht rund; jeder sagt mal was. Zwischen Augenblick und Ohren fallen Blätter von den Bäumen.
Boden
Es ist schön am Boden zu liegen. Halme in der Nähe knicken, knistern und richten sich auf. Erde trägt mein Gewicht, erträgt was ich abgebe. Gras wispert. Das ist eine zärtlich lautende Tatsache. Erde berührt mich so sehr, dass ich mich erst einmal wieder aufrichten muss.
Auf dem Rücken mit ausgebreiteten Armen, das öffnet den Brustkorb und das Herz; das macht verletzlich und offen.
Ein Blick in den Himmel und es erscheint das Ebenbild eines mit ausgebreiteten Armen liegenden oder fliegenden Menschen in den Wolken. Wie hier unten so da oben. Nur für einen kurzen Moment und das Bild löst sich auf. Das war großartig und schon ist es wieder etwas anders. Eine Antwort am Himmel, gemalt von auslaufenden Kondensstreifen. Flugzeuge ziehen ihre Geraden über diese Welt.
Getrocknete Weidenblätter stecken mit der Spitze wie Pfeilspitzen im Boden. Ich richte mich auf und entdecke, dass der ganze Hang voll ist von den blühenden, gelben Blumen.
Die Eschenschwestern
Die beiden Eschen haben in den letzten zwei Tagen fast ihr gesamtes Laub abgeworfen. Als ausgebreiteter Teppich liegt es in den sich überschneidenden Umkreisen der beiden Schwestern.
Hier spiele ich auf einer Plastikflöte. Lieber tiefe Töne als hohe. Lieber lange Töne als kurze. Lieber mit dem Atem als rhythmisch. Lieber einfach als kompliziert. Lieber geradeheraus, als ausgedacht. Lieber ruhig als erregt. Keiner Idee folgend, stellt sich die Idee ein: ein Lied für die Bäume, die ihre Blätter fallen lassen und für die Blätter, die am Boden liegen.
Ich spiele für das, was ich sehe und für das, was ich nicht sehe.
Ab und zu fällt ein weiteres Blatt und noch eines. Das Fallen der Blätter begleitet mich. Blätter lösen sich erst lautlos und fallen dann.
Ich stelle mir vor, wie es ist, Gedanken fallen zu lassen. Gedanken die sich lösen wie Blätter vom Baum, dahinsegelnd, heimatlos geworden, sich um sich selber drehend wie Spindeln, die noch einmal alles um sich herumwickeln wollen und sei es auch nur ein Luftzug und dann schließlich zu Boden fallen.
Die Antwort
Die Antwort kommt aus dem Dunkeln und aus der Stille. Sie ist nicht absehbar. Sie löst nach und nach, was zu lösen ist. Ich bitte um Nachsicht und immer wieder um Geduld. Die alte Seele würde gerne ihren Menhir wieder finden und sich an ihn anlehnen. Die Antwort kommt aus der Stille und sie löst das Alte ab. Das Stillere löst das Bestehende. Löst Schmerz, alte Wunden und Beklemmung. Bindet. Verbindet.