Samstag, 30. März 2013

Eiskalt


Diesen Weg bin ich noch nie gegangen. An Wohnhäusern vorbei. An einem Bächlein mit vielen kleinen Holzbrücken und mit grellgrün gleichsam im Wasser fließenden Wasserpflanzen. 

Ich denke nach über den Gefrierpunkt und über Wasser, das am Grund immer vier Grad hat. Da können Fische nie erfrieren. Das Wasser hat unten immer vier Grad, weil es bei vier Grad am schwersten ist.

Ich komme an einer Kleingartenkolonie vorbei. Die Tore sind geschlossen. Eisiger Wind fegt mir ins Gesicht. Brennt. 

Mir macht das nichts. Ich will das so. Mir gefällt das so. Es ist eisig und man muss herb und hart sein, um da durch zu kommen. Die Kälte schneidet und brennt. Aber ich fühle mich lebendig, trotzig, böse. Bin immer dagegen. Lehne mich in Kälte und Wind.

Bin nicht gegen das Wetter, nicht gegen den Winter, nicht gegen die Kälte. Ich höre die Vögel zwitschern und hoffe, dass sie nicht zu sehr leiden, wenn jetzt der Frühling noch einmal einen kräftigen Rückzieher gemacht hat.

Die Leute reden. Viele meinen, sie hätten jetzt einen Anspruch auf Frühlingswetter.

In der S-Bahn verfolge ich ein Telefonat:

Hallo Hildegard, hier ist die Tine. Die Stimme klingt voll nach Tine: I und T wie, gläsern, penetrant und hoch. Du ich rufe Dich an, weil ich Dich mal fragen wollte, wie es der Babs so geht. Ich mach mir da so langsam ein bissl Sorgen. Ich erreiche sie irgendwie nicht und das letzte Mal als ich mit ihr telefoniert habe, da war sie noch mit der Magdalena im Krankenhaus und da hatte sie noch so Untersuchungen wegen dem Ohr vor sich. Jetzt habe ich mir gedacht, ich ruf bei Dir mal an, vielleicht wissts ihr ja was. Ja, und wie geht es Euch? Ja, mir geht es wieder bessser. Bissl Stress in der Arbeit aber das bessert sich gerade. Weißt es gibt gute Tage und es gibt schlechte Tage. Die Kinder sind halt a bissl stressig. Ja, wir müssen uns unbedingt mal wieder sehen. Ruf doch mal durch, wenn es bei Dir geht. Ja, bei mir geht es vielleicht mal am Vormittag... und so weiter.

Ich wollte eigentlich lesen. Aber mit Tine im Ohr war mir das nicht möglich. Zuvor hatte sie noch ein Gespräch mit einem kleinen Mädchen geführt, der sie erklärt hat, was eine Mensa ist: Weißt du, das ist so ein sehr großer Raum, wo seeeeehr viele Menschen essen. Die Kleine guckt sie an und fragt: Caféteria?

Bei der Hinfahrt hatte ich zwei Damen zugehört, die sich über die Krebsfälle von Frauen um die 48 unterhalten haben. Alle 48, alle Raucherinnen. Und Du, fragt die eine die andere, rauchst Du noch? Haach, jaaa, ach,,,, Voll das schlechte Gewissen und überhaupt. Die andere redet weiter: Brustkrebs mit Metastasen im Knochenmark waren auch mit dabei. Die arme Frau kann nicht mehr arbeiten und bekommt zur Schmerzstillung Morphiumpräparate.

Da kann man nichts mehr machen, meint die eine zur anderen, den Krebs kriegt man aus den Knochen nicht mehr raus. Und zuvor hat sie noch erzählt, dass sie – noch bevor es die eigentliche Diagnose gegeben hat – zu einer Heilpraktikerin gegangen ist.

Zu IHRER Heilpraktikerin und sie hat dann eine Weile sehr gesund gelebt und wirklich nur noch Wasser getrunken, dass bei Vollmond abgefüllt worden ist. So ein bissl esoterisch halt. Hätt die sich früher untersuchen lassen, hätt die gute Chancen auf ein Überleben gehabt.

Ich hab eine Freundin, die hat vor dreissig Jahren Brustkrebs gehabt und die lebt jetzt ein gutes Leben. Der haben sie halt die Brust, die Drüsen und alles abgenommen. Der geht es aber gut jetzt. Bei der anderen ist es nur noch eine Frage der Zeit. Die Wirbelsäule haben sie ihr teilweise zementiert, weil da alles zerfressen ist. Die kann sich ja vor Schmerzen nicht mehr rühren. Es ist einfach schrecklich. Da kann man ja kaum hinschauen. Selbst schuld. Ja, man muss schon zur Vorsorge gehen. Was nützt die Angst vor dem, was rauskommen könnte. Das ändert doch nichts. Ich tät ja da hingehen. Ich will wissen, was los ist.

Schneebedeckte Landschaften mit verdorrten hellgelben Grasbüscheln, die durch angefrohrene Schneehauben hindurchstechen wie kräftige Haarbüsche und kleine Haine junger Bäume, an denen noch nicht ein Hauch von Knospe zu sehen ist. Atmosphäre von Niemandsland und Hundestrecken.

Ein Wetter, das mit meiner gefühlten inneren Härte und mit der inneren Gnadenlosigkeit Kontakt aufnimmt. 

Da hustet es, da philosophiert es in Überlautstärke, da plärrt es aus dem Ohrhörer Heavymetal und überhaupt und überhaupt. Alles ist böse. Alles ist so unerträglich. Alles treibt zur Flucht an.

Dieser Mann setzt sich zu sehr in meine Nähe. Mir schräg gegenüber. Hätte der sich neben mich gesetzt, ich wäre auf der Stelle aufgestanden und woanders hingegangen. Er sieht so ausgelaugt und seltsam aus. Seine Haut ist bleich, dünn und schuppig. Die Adern schimmern seine Haut hindurch hindurch. Er trägt eine Brille. Die Augen sind grau, unbstimmt und verloren. Ein bisschen verdreht.

Ein anderer Mann, der mir entgegenkommt, trägt enge, hellgraue Kunstlederhandschuhe, die er nacheinander, langsam an den Handgelenken hochzieht. 

Ich spüre förmlich, wie sich seine behandschuhten Hände anonym und keine Spuren hinterlassend um meinen Hals legen. Zu viel fernsehgeguckt. 

Nichts Gutes. Heute nicht. Einfach so. Von vorneherein nicht. Gruselmärchen. Denkt man an die spuckenden Jungs auf dem Bahnsteig, die mit ihren Kappen und gemusterten Jogginghosen mit einem Muster, das an einen Maschendrahtzaun erinnert. Dazu Kapuzenjacken, Kreuzkettchen und gegeelte Haare.

Mir wird eisig. Flupp, schon wieder rotzt er durch die Vorderzähne auf die Gleise. Die rauchen und wieder flupp, flupp fliegt die Spucke in hohem Bogen auf die Gleise, in die kalte, schneidende Luft, der S-Bahn und den Betonsquersparren der eisernen Gleise entgegen und ins Nichts.

Wo soll das hinführen? Keine Ahnung, Mann. Ist doch völlig egal. Schießt eine Salve Schottersteine ins Gleisbett. Uns ist das doch scheiss egal. Guck woanders hin.

Ich wollte echt wissen, worüber die reden. Ich wollte wissen, wofür die sich interessieren, ich wollte wissen, was die zusammenhält. Ich wollte wissen, was da los ist. Ich wollte es verstehen, wie es dazu kommen konnte und was man da tun kann. Ich wollte hinter diese Rotzfassade blicken können.

Irgendwie waren die mir total fremd. Ich habe mich hinter dem Fahrplanglaskasten versteckt. Die Abfahrtszeiten und das S-Bahn-Netz angesehen und dabei versucht etwas von dem zu hören, was die reden.

Flupp, schon wieder fliegt die Rotze. Keine Ahnung man. Der eine hält eine Bierflasche in den Fingerspitzen. Schwingt sie hin und her. Aus Langeweile. Keine Ahnung man. Der andere hat die Hände in den Taschen seiner Schlafanzujogginghose und zieht die Hände so weit es geht mit den Taschen nach aussen. Er tänzelt auf den jeweils äußeren Längskanten seiner Sneakers, die Kapuze seines Kapuzenshirts über einer dunklen Lederjacke. Schwankt jetzt mit breitgezogener Hose, auf den Längskanten balancierend und auf der Bahnsteigkante. 

Weiss nicht eh. Was willst Du überhaupt. Der andere schüttelt hektisch seinen Pony aus dem Gesicht. Der nur wenig beeindruckt, die Augen sofort wieder überdeckt. Flapp. Mann ey.

Eine Durchsage. Die S-Bahn wird fünf Minuten später eintreffen. Wir stehen hier schon knapp zehn Minuten und es ist echt kalt. Zeitungen sind keine mehr in den Tonnen.

Hunderte von Zigaretten sind hier ausgedrückt worden und hinterlassen eine von Punkt zu Punkt festgedrückte Ascheschicht auf den Rändern und Abdeckungen der Mülltonnen. Man riecht es schon, wenn man es nur ansieht.

In den Ritzen der Bodenfliesen sammeln sich diverse Flüssigkeiten. Cola. Bier. Piesel. Ich bewege mich, damit mir nicht zu kalt wird.

Die Kids nicht durch Nähe provozieren. Die wollen unter sich bleiben. Ein Schrei zerreisst die ohnehin pfeiffende Stille auf dem Bahnsteig. Von weitem haben die beiden einen Kumpel erblickt. Ey Alter.

Eine Frau vor dem Aufzug hustet in ihren Schal hinein. Wir fahren gemeinsam im Aufzug hoch. Es ist eng hier. 

Eine Bettlerin verlangt einsfünfzig für eine Zeitschrift. Mit großer Bestimmtheit in der Stimme. Sie befiehlt es mir. Nein, sage ich. Ich will nicht.

Jetzt nicht. Heute nicht. Ich denke trotzdem über die Bibel nach. Natürlich denke ich daran. Das Geschäft mit der Bedürftigkeit. Ich gucke auf die unglaublichen Mengen von Produkten, von Waren, von Käuflichem. Ich denke mir, das kann nur in einem Land voller Bedürftiger überhaupt funktionieren.

Ich habe nichts. Ich brauche was. Was ich habe, genügt nicht. Schöner Wohnen. Schöner Leben. Schöner Angezogen sein. Schöner aussehen. Eiskalt.

Sonnenblumen


Vor einigen Tagen hatte ich einen Traum.

Ich sah, wie jemand in einem Wohnhaus, ganz oben, in einen Balkonkasten bereits riesig gewachsene Sonnenblumen einpflanzte bzw. schon eingepflanzt hatte. 

Später sah es sogar aus, als wären die Sonnenblumen in die Dachrinne eingepflanzt worden. Viele nebeneinander. 

Die Sonnenblumen waren mindestens so groß und so lang wie Straßenlaternen. Gigantisch. Die Stelle, an der sie gelb-grünlich aus der Erde kamen, erinnerten an Elefantenfüße. 

Ich sah diese Bepflanzung von unten, von der Straße aus. Und ich war sehr beunruhigt. Ich wusste, dass Sonnenblumen, wenn sie welken, gleich am Fuß umknicken. 

Diese Sonnenblumen waren so groß, dass sie, wenn sie welken würden, umknicken und mit Blüten und Stengeln auf die Kreuzung stürzen würden und alles erschlagen, was sich darunter befinden würde. 

Ich überlegte, ob ich mein Wissen und meine Befürchtung mitteilen sollte und sah vor meinem inneren Auge eine solche, umstürzende Sonnenblume. Sah, wie sie Passanten erschlägt. 

Flapp. Mit einem Peitschenhieb sauste sie durch die Luft, vom Dach mitten auf die breite, vielbefahrene Kreuzung. 

Ich wollte jener Person, die die Sonnenblumen wohl aus Freude gepflanzt hatte, diese Freude nicht nehmen und dachte darüber nach, ob meine Befürchtungen überhaupt berechtigt wären.


Paris Erinnerungen


Der elfte dritte erinnert mich wie kein zweites Datum an Paris. Es ist der Tag, an dem Nicolas Geburtstag hat – mein Pariser Aupair-Kind.

Heute arbeite ich im Büro mit Kollegen zusammen, die ungefähr sein Alter haben. Junge Leute, die ihren Weg gehen, ihre Berufsausbildung fertig haben.

Nicolas ist nur zwei bis drei Jahre jünger. Als ich in Paris ankam, war er gerade sechs Monate alt. Als ich ihn das erste Mal auf einem Sessel sitzend in den Arm nehmen durfte, pinkelte er mir auf meinen Minirock.

Ich war mit Rollschuhen und im Minirock in Paris unterwegs gewesen. Entgegen der Legende, die jeder ausbreitete, der schon einmal in Paris gewesen war, demnach die Metro ja das Allertollste sei, fand ich die Metro überhaupt nicht toll.

Sie machte mir Angst. Besonders die ewig langen Gänge, die man entlangrennt, wenn man umsteigen möchte. Hierzulande ist umsteigen eine Sache von wenigen Minuten. In Paris dauert es viel länger.

Man rennt und rennt wie Ratten im Labyrinth die Gänge entlang. Noch eine Treppe, noch eine Biegung, noch ein Abzweig, entlang gekachelter Wände, bei großen Stationen vorbei an Blumen- oder Avocado-Verkäufern, die ihre Waren gleich aus Pappkartons heraus verkaufen, am liebsten immer gleich drei oder zehn Stück auf einmal.

Die Menschen rasen und es ist schwer jemanden, der sich in einem solchen Pulk befindet zu bremsen und sein Interesse für zweifelhafte Waren zu wecken.

Alles findet in kaltem Neonlicht statt, manche Werbeplakate wiederholen sich endlos entlang solcher Strecken und schaffen wie Fenster mit Ausblick ein neues Bewusstsein für irgendetwas, ein Boulevardtheaterstück, eine Damenunterwäsche.

Hier sind keine Fenster,Türen und Ausgänge. Nur, wenn man eine Treppe nach oben nehmen muss, bekommt man eine Ahnung, wie tief man sich gerade unter der Erde befindet.

Manchmal da lassen die eiligen Schritte - mit Blick an die Decke – ein Stoßgebet zu. Hoffentlich geht alles gut. Das meiste geht automatisch. Alle eilen automatisch. So automatisch wie elektronische Schranken, die die Passagiere vorbeilassen, sobald sie ihren laissez passer vorgezeigt haben.

Also, ich war nicht so heiß auf die Metro. Im Gegenteil. Manche Fahrt lag mir quer im Magen und die Begeisterung über metrofahrende Straßenmusiker konnte ich nicht teilen.

Wochenendausflügler aus Köln, die haben es ja nicht so weit und zum Frühstück nach Paris, das ist von Köln aus ein geradezu legendärer Ausflug, die finden das toll.

In Köln sind die Bahnen zu schmal und zu eng. Da wird kein Musiker auftreten. Außerdem würde der vom Fahrer gleich mal auf die Straße gesetzt.

Wenn dann in Paris ein Straßenmusiker ein Kölner Pärchen in der Metro antrifft, dann ist die Freude beiderseits: Ein verliebtes Musettewalzerchen mit dem Akkordeon in der Metro und schon schnurrt sie: Ach, Schatz hör Dir das an, wir sind tatsächlich in Paris. Ist das nicht wunderbar, verdreht sie die blitzenden Äuglein und lehnt ihren Kopf eine seine Schulter, während er das Portemonnaie zückt und zahlt.

Ich bin damals mit Rollschuhen gefahren, weil ich etwas sehen wollte und wann immer es die Strecke zuließ, benutzte ich einen Bus mit offener Plattform. Ich habe mir einen Spaß mit Autofahrern erlaubt.

Der Verkehr ist in Paris sehr dicht, geradezu distanzlos. Auch und gerade unter Autofahrern. Da geht es eher zu, wie beim Autoscooter. Da wird angerempelt, geschoben, gerückt, sich durchgequetscht, auf Augenkontakt und mit Dreistigkeit alles probiert und losgefahren, unvermittelt Spur gewechselt, Lücken sofern es sie gibt, auf der Stelle genutzt.

Der Tages-Autoverkehr hat nichts Braves und schon gar nichts Aufgeräumtes. Alle fahren wie wild drauflos und trotzdem sortiert es sich irgendwie. Es wird gehupt. Manchmal sausen Polizei- und Sanitätswagen zwischen all dem durch und wenn es mal brennt, dann wird es so richtig schwierig, weil an Tagen, an denen die Metro streikt, was oft genug vorkommt, da kommt kein Feuerwehrauto mehr durch den Verkehr durch.

Die Straßen sind einfach komplett dicht. Mittendrin stecke ich dann mit dem dunkelgrünen Bus fest, hänge mich über die Rehling rüber, nehme Augenkontakt zu den Fahrern auf, verteile Bonbons und winke und vergnüge mich und nehme Kontakt auf mit „meinem“ Paris.

Ich war immer auch am ganz normalen Paris interessiert. Nicht am Paris besonderer Etablissements, Bars, Jazzclubs oder Edelcafés, sondern am Paris, in dem im Morgengrauen das Wasser durch die Rinnsteine gejagt wurde, die Miniteppichrollen zum Wegweiser werden. Am Paris mit blankgescheuertem Macadam und Chlorgeruch – Pardon – Eau de Javel-Geruch. Ein Geruch, der Sauberkeit und Frische vermittelt.

Am Paris der hunderten von Nähereien im Marais, der tausend parkenden Autos, zwischen denen man sich nicht einmal mehr hindurchdrücken kann, an alltäglichen Gewohnheiten, an der Ladenschwemme, den ständigen in hellgelb und orange ausgeschnittenen Pappsternen die Soldes verkünden, 30 bis 50%, alles billig und ich machte die Erfahrung, dass in Paris selbst die Mode eher eine möglichst billige Sache ist, für jedermann und die Hautecouture eher was für große Plakate ist.

Trotzdem, wenn hinten im Mantel oder im T-Shirt der kursive Schreibschriftschriftzug Paris drinsteht, ausgesprochen ohne S, dann ist mit der Ware alles in Ordnung. Wenn man für eine gewisse Zeit in Paris lebt, dann sammelt man Beweise dafür, dass man dort gelebt hat. Schließlich träumt von Paris die ganze Welt. Wer die Stadt nicht selber kennt, der kennt ihren Ruf.

Und von den Modeplakaten herunter erfährt man dann auch, was Sache ist, was im Frühling Mode sein wird und was zum Rentrée, der Zeit im Herbst, nach den Sommerferien, die man en Famille en Provence oder en Normandie verbracht hat.

Zumindest die gutsituierten, alteingesessenen Familien, die dort ihre Landhäuser haben und sie mit der Großfamilie teilen. Das sind Ferien wie im Kino, wie im Tati-Film.

Das Leben in Paris, der ganz normale Alltag ist zumeist sehr straff organisiert und er läßt nur sehr wenig Raum für Extras – so wie Bummeln gehen, Leute treffen, besondere Aktivitäten, Gemeinsame Abendessen.

Normal ist aufstehen, zur Arbeit und zur Schule gehen, Kinder ins Auto laden, bringen und holen, Mittags auf der Straße oder im Café ein Riesiges Sandwich Jambon-Fromage, das kaum manierlich zu bewältigen ist, um sechzehn Uhr, zum Schul- und Kindergartenschluss den Goutter, den Riesenkeks und dann noch kurz Brot für das Abendessen kaufen und dann nach Hause:

Mit der Familie Abendessen und im Rahmen der Familie, im Salon bei einer Tisane, einem Kräutertee, vis à vis eines zumeist nicht genutzten Kamins, einer Kaminuhr und einem riesigen, alten Spiegel dahinter, der den Raum zu verdoppeln scheint, in der gediegenen Atmosphäre von vergoldeten Louis Quinze oder Louis Quatorze-Möbeln, bei gelblich, schummriger Beleuchtung den Abend ausklingen zu lassen und vielleicht auch mit dem Blick dann doch in ein echtes Kaminfeuer, was allerdings die Ausnahme ist.

Man geht nachts nicht raus und nicht auf die Straße, das tun nur Touristen, nicht die ganz normalen Bewohner von Paris. Deren Leben findet auf einer ganz anderen Spur und sehr stark eingebettet in den Kreis von Familie und vielleicht noch, besonders bei jungen Leuten, sehr engen Freunden statt. Ansonsten ist das ganze nach außen hin eher abgeschottet.

... 

Schmuck


Bunte, fantasievolle und vor allen Dingen inspirierte Schmuckstücke lagen in den Vitrinen und zeigten „Das Leben ist schön. Es gibt so viele Möglichkeiten.“ Dinge lagen da, der Schönheit verpflichtet und eben der Inspiration.

Sie lagen in Vitrinen, im Halbdunkel des Raumes mit dunklen Wänden und dunklen Fußböden und wurden durch besondere Spotlichter ganz besonders in Szene gesetzt und „aktiviert“. Gold glänzte, Farben waren nahezu überstrahlt und ganz schnell war vergessen, wie klein diese Objekte sind und wie sehr man sich ihnen zuwenden, sich zu ihnen hinbeugen muss, um sie überhaupt richtig sehen zu können.

Ganz schnell waren auch die vielen Menschen vergessen, die, wie wir das Gleiche taten und sich an Schaufenster und Vitrinen herandrängelten. Im Pulk vorangeschoben, sich dem Vordermann hinterherschiebend, zwei Sekunden Sichtzeit und dann das nächste Fenster.

All das war aber nicht so wichtig, wie diese kleinen, bunten, feinen, bisweilen ausgeflippten und hübschen Dinge, die es zu sehen gab. Man wusste nie, was da jetzt als Nächstes kommt. Und es hingen Ahs und Ohs und Staunen in der Luft.

Ich selber war in der an sich gedämpften, kulturbeflissenen Atmosphäre unter lauter Kultur-, Oper-, Mode-, Design-, Künstler- und Entwerferpublikum, unter Fachleuten, Spezialisten, Conaisseuren, Sammlern, professionellen Sichselbstinszenierern, potentiellen Käufern und Produzenten, die mit auffälligen „avantguardistischen“ Schnitten antraten, wie z.B. einer quasiarabischen Beutelhose in rosa-braun-dunkelrotem Golfhosenkaro mit seitlicher verlaufender Raffung des Hosenbeins von oben nach unten, die an ein Wohnzimmerwolkenstore erinnert oder gespickt mit raffinierten Details, wie z.B. eine echte Pfeife als Brosche als Anspielung auf René Magrittes Ceci n’est pas une pipe, mit Handtaschen mit selbstleuchtendem Trageriff oder einem goldenen, gelochten Halsreifen, der im Zusammenspiel mit dem Gewand, die Trägerin selbst in ein Schmuckstück oder aber in den mittelalterlichen Gemäldetypus einer Heiligen mit Heiligenschein auf Goldgrund verwandelte, besonders laut.

Ohhhh, guck mal hier D., sieh Dir das mal an, wie schön das ist, schau mal, wie das funkelt und ach, wie süß ist das, nein, dass man überhaupt auf so eine Idee kommen kann, boahhh, ey, guck Dir das an, das ist ja hammermäßig, so etwas habe ich ja noch nie gesehen und ach, dahinten, wahnsinn, das leuchtet ja bis hierher und das ist durch das Licht total ins Strahlen geraten, grün, orange, golden und gelb, und guck mal da, die unterste Schicht ist noch feiner ziseliert, ornamentiert, als die ohnehin schon feinen Stücke darüber. Ich glaub es ja nicht. Ist das toll. Nein, so etwas Schönes. Ich bin hingerissen. Und so ging es weiter.

D. hat natürlich selber Augen im Kopf und die anderen auch. Aber sie hat auch kapiert, dass ich meine Kinder-Ahhhhs und Ohhhs, so hemmungslos rausgelassen habe, wie vielleicht früher Mal im Kasperletheater.

Und unter all den ernsthaften Leuten haben wir natürlich die Clowns gemacht und uns ein bisschen daneben benommen, es raushängen lassen – zumal wir uns über diese gierigen Fotografierer geärgert haben, die die Objekte schier aus den Vitrinen rausgeknipst haben – noch bevor sie sich das wirklich angesehen haben – dieses Fotoapparat hinhalten – zoomen brrrrr – das verlängerte Raubauge machen und dann abdrücken. Wusch und weg. Whats next? Weiter gieren. Konsequenterweise hätten die Objekte danach wegsein müssen oder zumindest ein bisschen weniger.

Es wurde gezoomt und fotografiert, was das Zeug hält. D. und ich hatten unabhängig voneinander das Gefühl, dass diese Leute zum „Klauen“ und Kopieren gekommen sind. Apfel copy, Apfel x und Apfel v. Last not least.

Wir fanden das ekelhaft. Respektlos, gierig und räuberisch. Widerlicher Schlabberkram. Saugen, was das Zeug hält. Noch nicht einmal mit dem Vertrauen ins eigene Auge, die Aufnahme- und Speicherfähigkeit des eigenen Gehirns, sondern an der eigentlichen Sache vorbei lassen sie die SuperDigis mit den unzählig vielen Pixeln den Job machen und versprechen sich „mehr“ davon.

Sie haben es ganz schlau angestellt. Den Schmuck gucken wir uns dann zuhause in Ruhe am Rechner an. Der Gedanke, dass man den Geist einer Sache nicht kopieren kann, der tröstete nicht wirklich über den Anblick der saugenden Kameras und ihrer gierigen Halter hinweg.

Ich habe dieses Wort „inspiriert“ bislang selten für Kunstwerke verwendet. Klingt es doch so geschwollen, urteilend, vom Ross herunter oder intellektuell. Was schließlich soll „inspiriert“ sein oder heißen?

Ahnung von Schmuck im Speziellen habe ich nicht. War bei der Ausstellung auch gar nicht nötig. Es war noch nicht mal so, dass die Sachen das „Habenwollen“-ausgelöst haben. Es hat eigentlich vollkommen gereicht, sie zu sehen.

Inspiriert, begeistert: Es war das Ansteckende, das von ihnen ausging – die Ideen, Assoziationen und Erinnerungen, die sie anzettelten. Die Dinger waren eben nicht passiv, Aufmerksamkeit verschlingend und dann tumb machend und der Betrachter ein bisschen ärmer und ausgeraubt zurücklassend, sondern ganz im Gegenteil.

Die Dinger wirkten hochaktiv, nahmen die Aufmerksamkeit an, schickten sie einmal durch sich durch und drumherum und schwurbelten sie durch ihre mannigfaltigen (Schmuck-)Eigenschaften hindurch und schickten sie eben so aufgeladen durchs Auge des Betrachters wieder zurück.

Deswegen inspiriert und inspirierend. Via der Schmuckstücke wurde etwas initiiert und weitergereicht, das man gar nicht besitzen kann. Es ist dieser unsichtbare Stoff, der uns alle verbindet, der plötzlich spürbar wurde.

Die Freude an was auch immer: An bunten Lichtern auf dem Jahrmarkt zum Beispiel, am Blick von Tieren, die Steigerung der Gegenwärtigkeit durch Glanz, Glitzern und Farben. Die Begeisterung, wenn ein Ästchen oder Blätter, Naturformen wie Schmuck ins Zentrum der Aufmerksamkeit hereingeholt werden.

Das Spiel mit den Dimensionen: zwergenhaft klein und zugleich riesengroß. Der zauberhafte Lärm und das Geschepper, das von Jahrmarksorgeln, Ausrufern und echten, quietschenden Jahrmarktsattraktionen ausgeht – von Schmetterlingstanz bis Flohzirkus.

Eine schrill-bunte Wunderwelt, die keine Grenzen kennt und zugleich so ganz ruhige Nischen in denen ein Zweiglein mit knospenden Blättern vergoldet dann doch das edelste aller Stücke sein können – für einen Augenblick – bis hin zur nächsten Attraktion:

Fluoreszierenden Lockenwicklergeweben, die zum edelsten aller Colliers zusammengelötet sind. Und dann überdimensionierte Reifen und Ringe, farbigste Glasarbeiten, die an prächtige Schnecken erinnern und die sechsfache Welt hinterleuchteter Kaleidoskopbilder in Schmuck übersetzen.

Die gezeigten Schmuckobjekte wirkten total ansteckend. Als ich die mannigfaltigen Formen, Farben und Materialien sah, hatte ich auf der Stelle Lust, Papier zu nehmen, Formen darauf zu malen, sie zu kolorieren, auszuschneiden und bunte Blumenketten oder Fantasieobjekte daraus zu machen.

Ein Holländer trug eine Brosche in Form eines in eine holländische (?) Flagge gekleideten bzw. behosten Kängurus mit einem goldenen Reif um den Hals. Der war trotz Menschenmenge immer in meiner Nähe. Wie ein Maskottchen. Ich glaube, er war - genau wie wir - von den vielen Anregungen, die von den