Mittwoch, 1. Februar 2012

Wunderland II

Während wir so daher reden, macht sich ihr 10 jähriger Sohn, über die Elektrik her, optimiert die Schichtung des Kaminholzes und studiert die Gebrauchsanweisung für den Spielecomputer seiner kleinen Schwester und will anderen die Welt erklären, so wie er sie begriffen hat. 

"Mama, jetzt hör doch mal zu..." und er befasst sich mit ihrem neuen Handy, will ihr all die Features nahelegen und die Handhabung dieses Gerätes. 

Analytisch. Logisch. Im Ernst und ohne Spiel. Er hat überhaupt nicht diese Schutzschicht wie unsereins, die es ermöglicht in irgendwelchen Träumen und Phantasien seine Zeit zu vergeuden, anstatt einen tatsächlichen und bewussten Einfluss auf jene Welt zu haben, in der wir tatsächlich leben.

Der hat das gemacht und der hat das gemacht und das war so und so oder eher doch so und aus der jetzigen Perspektive sieht es so und so aus. 

Wie zwei Alträucher, sitzen wir da, reden ohne Punkt und Komma, während der Junge die Waschmaschine repariert, die Steckdose versetzt und dies demonstrativ auf dem Wohnzimmerteppich und genau in seiner Mitte vollführt, während wir nichts anderes im Sinn haben, als in irgendwelchen alten Geschichten zu schwelgen, zu fachsimpeln, zu mutmaßen, lauter sinnloses Zeug, so lange wir nur nicht gegenwärtig werden müssen, aufräumen, einen Blick auf die Bedürfnisse der Kinder, des Hauses, des Hundes, des Gartens oder der Gegenwart zu richten. 

Was können wir tun, um unsere Welt zu verbessern? 
Was können wir tun, um die Funktionen unserer Welt zu verstehen? 

Nein, ich glaube, wir leben in weitgehend in unseren Träumen und Geschichten, in unseren Leidensgeschichten und in unseren Erinnerungen, wir hängen irgendwo in einem längst luftleer gewordenen Raum herum und wollen dabei absolut nicht gestört werden. 

Der Raum, in dem wir uns bewegen, der bietet jene Sicherheit, das er schon vorbei und längst erkaltet ist. Das ist unsere Sicherheit. Das ist die Sphäre in der wir uns gefahrlos bewegen können. 

Wir, meine Freundin und ich, sind in solchen Momenten nicht gegenwärtig. Wir sind nicht präsent. Wir hängen in unseren Geschichten. In unseren Weltkonstruktionen, die unsere Prägung wiederkäuen. Wieder und wieder. 

Wir schaffen es gar nicht, uns mit Gegenwart zu beschäftigen, geschweige denn, so etwas wie eine Zukunft zu erschaffen. Wir leben nicht im Augenblick. Nicht in der Gegenwart. Wir brauchen immer eine Menge Fluchttüren in die Erinnerung und auch in die Mutmaßung darüber, wie es denn gehen könnte oder besser sein könnte oder wie es denn vielleicht richtig ist. 

Wir reden auch gerne über andere oder über das, was wir von uns selber denken oder zu wissen glauben – aber auch das findet im Traum statt. 

Der Junge versetzt in der Zeit die Steckdose, damit man sich nicht so weit rüberbeugen muss, wenn man sie benutzt. Der Junge hat den Stecker aufgeschraubt, holt einzelne, bunte Kabel aus den inneren Plastikrinnen des Steckers, sieht sie sich an, biegt sie raus und wieder zurück, verlängert das Kabel oder verkürzt es, der Hund will pinkeln und die Tochter nicht mit ihm raus, alle wollen uns und wir wollen nicht raus aus unserer Gespensterwelt, einer Welt aus längst vorbei, irrelevant, nicht gegenwärtig, einer Welt aus Träumen und Erinnerungen an vergangene Liebschaften. 

Es hätte so sein können oder doch auch so und hätte er es so verstanden, dann wäre es mir so gegangen, und damals habe ich dieses oder jenes nicht so oder doch so verstanden. Alles so irrelevant. 

Wir rauchen, wir trinken Tee, wir sinnieren, tauchen ab, vergessen die Welt. Wir wissen nicht, was wir da tun, in dem wir glauben, wir wüssten, was wir da tun und in dem wir glauben, wir hätten alles im Griff. 

Wir leben immer wieder neu in der Vergangenheit, in der Erinnerung, wir driften ab und weg und merken es nicht und der Junge stört. 

Für ihn gibt es nur den Ernst der Gegenwart und ihrer Funktionen. Von Funktionen haben wir keine Ahnung. Das war in der Schule. 

Wir haben es nicht gelernt, uns für jene Welt zu interessieren, in der wir tatsächlich leben. Wir reden und pflegen den Nachhang, die Nachwirkungen einer Welt, die wir auch damals schon nicht verstanden haben. Weil wir damals schon genauso wenig gegenwärtig waren wie jetzt. 

Für Kinder gibt es erst mal nur die Gegenwart, bis auch sie dann anfangen, Vergangenheit anzuhäufen.