Samstag, 30. März 2013

Eiskalt


Diesen Weg bin ich noch nie gegangen. An Wohnhäusern vorbei. An einem Bächlein mit vielen kleinen Holzbrücken und mit grellgrün gleichsam im Wasser fließenden Wasserpflanzen. 

Ich denke nach über den Gefrierpunkt und über Wasser, das am Grund immer vier Grad hat. Da können Fische nie erfrieren. Das Wasser hat unten immer vier Grad, weil es bei vier Grad am schwersten ist.

Ich komme an einer Kleingartenkolonie vorbei. Die Tore sind geschlossen. Eisiger Wind fegt mir ins Gesicht. Brennt. 

Mir macht das nichts. Ich will das so. Mir gefällt das so. Es ist eisig und man muss herb und hart sein, um da durch zu kommen. Die Kälte schneidet und brennt. Aber ich fühle mich lebendig, trotzig, böse. Bin immer dagegen. Lehne mich in Kälte und Wind.

Bin nicht gegen das Wetter, nicht gegen den Winter, nicht gegen die Kälte. Ich höre die Vögel zwitschern und hoffe, dass sie nicht zu sehr leiden, wenn jetzt der Frühling noch einmal einen kräftigen Rückzieher gemacht hat.

Die Leute reden. Viele meinen, sie hätten jetzt einen Anspruch auf Frühlingswetter.

In der S-Bahn verfolge ich ein Telefonat:

Hallo Hildegard, hier ist die Tine. Die Stimme klingt voll nach Tine: I und T wie, gläsern, penetrant und hoch. Du ich rufe Dich an, weil ich Dich mal fragen wollte, wie es der Babs so geht. Ich mach mir da so langsam ein bissl Sorgen. Ich erreiche sie irgendwie nicht und das letzte Mal als ich mit ihr telefoniert habe, da war sie noch mit der Magdalena im Krankenhaus und da hatte sie noch so Untersuchungen wegen dem Ohr vor sich. Jetzt habe ich mir gedacht, ich ruf bei Dir mal an, vielleicht wissts ihr ja was. Ja, und wie geht es Euch? Ja, mir geht es wieder bessser. Bissl Stress in der Arbeit aber das bessert sich gerade. Weißt es gibt gute Tage und es gibt schlechte Tage. Die Kinder sind halt a bissl stressig. Ja, wir müssen uns unbedingt mal wieder sehen. Ruf doch mal durch, wenn es bei Dir geht. Ja, bei mir geht es vielleicht mal am Vormittag... und so weiter.

Ich wollte eigentlich lesen. Aber mit Tine im Ohr war mir das nicht möglich. Zuvor hatte sie noch ein Gespräch mit einem kleinen Mädchen geführt, der sie erklärt hat, was eine Mensa ist: Weißt du, das ist so ein sehr großer Raum, wo seeeeehr viele Menschen essen. Die Kleine guckt sie an und fragt: Caféteria?

Bei der Hinfahrt hatte ich zwei Damen zugehört, die sich über die Krebsfälle von Frauen um die 48 unterhalten haben. Alle 48, alle Raucherinnen. Und Du, fragt die eine die andere, rauchst Du noch? Haach, jaaa, ach,,,, Voll das schlechte Gewissen und überhaupt. Die andere redet weiter: Brustkrebs mit Metastasen im Knochenmark waren auch mit dabei. Die arme Frau kann nicht mehr arbeiten und bekommt zur Schmerzstillung Morphiumpräparate.

Da kann man nichts mehr machen, meint die eine zur anderen, den Krebs kriegt man aus den Knochen nicht mehr raus. Und zuvor hat sie noch erzählt, dass sie – noch bevor es die eigentliche Diagnose gegeben hat – zu einer Heilpraktikerin gegangen ist.

Zu IHRER Heilpraktikerin und sie hat dann eine Weile sehr gesund gelebt und wirklich nur noch Wasser getrunken, dass bei Vollmond abgefüllt worden ist. So ein bissl esoterisch halt. Hätt die sich früher untersuchen lassen, hätt die gute Chancen auf ein Überleben gehabt.

Ich hab eine Freundin, die hat vor dreissig Jahren Brustkrebs gehabt und die lebt jetzt ein gutes Leben. Der haben sie halt die Brust, die Drüsen und alles abgenommen. Der geht es aber gut jetzt. Bei der anderen ist es nur noch eine Frage der Zeit. Die Wirbelsäule haben sie ihr teilweise zementiert, weil da alles zerfressen ist. Die kann sich ja vor Schmerzen nicht mehr rühren. Es ist einfach schrecklich. Da kann man ja kaum hinschauen. Selbst schuld. Ja, man muss schon zur Vorsorge gehen. Was nützt die Angst vor dem, was rauskommen könnte. Das ändert doch nichts. Ich tät ja da hingehen. Ich will wissen, was los ist.

Schneebedeckte Landschaften mit verdorrten hellgelben Grasbüscheln, die durch angefrohrene Schneehauben hindurchstechen wie kräftige Haarbüsche und kleine Haine junger Bäume, an denen noch nicht ein Hauch von Knospe zu sehen ist. Atmosphäre von Niemandsland und Hundestrecken.

Ein Wetter, das mit meiner gefühlten inneren Härte und mit der inneren Gnadenlosigkeit Kontakt aufnimmt. 

Da hustet es, da philosophiert es in Überlautstärke, da plärrt es aus dem Ohrhörer Heavymetal und überhaupt und überhaupt. Alles ist böse. Alles ist so unerträglich. Alles treibt zur Flucht an.

Dieser Mann setzt sich zu sehr in meine Nähe. Mir schräg gegenüber. Hätte der sich neben mich gesetzt, ich wäre auf der Stelle aufgestanden und woanders hingegangen. Er sieht so ausgelaugt und seltsam aus. Seine Haut ist bleich, dünn und schuppig. Die Adern schimmern seine Haut hindurch hindurch. Er trägt eine Brille. Die Augen sind grau, unbstimmt und verloren. Ein bisschen verdreht.

Ein anderer Mann, der mir entgegenkommt, trägt enge, hellgraue Kunstlederhandschuhe, die er nacheinander, langsam an den Handgelenken hochzieht. 

Ich spüre förmlich, wie sich seine behandschuhten Hände anonym und keine Spuren hinterlassend um meinen Hals legen. Zu viel fernsehgeguckt. 

Nichts Gutes. Heute nicht. Einfach so. Von vorneherein nicht. Gruselmärchen. Denkt man an die spuckenden Jungs auf dem Bahnsteig, die mit ihren Kappen und gemusterten Jogginghosen mit einem Muster, das an einen Maschendrahtzaun erinnert. Dazu Kapuzenjacken, Kreuzkettchen und gegeelte Haare.

Mir wird eisig. Flupp, schon wieder rotzt er durch die Vorderzähne auf die Gleise. Die rauchen und wieder flupp, flupp fliegt die Spucke in hohem Bogen auf die Gleise, in die kalte, schneidende Luft, der S-Bahn und den Betonsquersparren der eisernen Gleise entgegen und ins Nichts.

Wo soll das hinführen? Keine Ahnung, Mann. Ist doch völlig egal. Schießt eine Salve Schottersteine ins Gleisbett. Uns ist das doch scheiss egal. Guck woanders hin.

Ich wollte echt wissen, worüber die reden. Ich wollte wissen, wofür die sich interessieren, ich wollte wissen, was die zusammenhält. Ich wollte wissen, was da los ist. Ich wollte es verstehen, wie es dazu kommen konnte und was man da tun kann. Ich wollte hinter diese Rotzfassade blicken können.

Irgendwie waren die mir total fremd. Ich habe mich hinter dem Fahrplanglaskasten versteckt. Die Abfahrtszeiten und das S-Bahn-Netz angesehen und dabei versucht etwas von dem zu hören, was die reden.

Flupp, schon wieder fliegt die Rotze. Keine Ahnung man. Der eine hält eine Bierflasche in den Fingerspitzen. Schwingt sie hin und her. Aus Langeweile. Keine Ahnung man. Der andere hat die Hände in den Taschen seiner Schlafanzujogginghose und zieht die Hände so weit es geht mit den Taschen nach aussen. Er tänzelt auf den jeweils äußeren Längskanten seiner Sneakers, die Kapuze seines Kapuzenshirts über einer dunklen Lederjacke. Schwankt jetzt mit breitgezogener Hose, auf den Längskanten balancierend und auf der Bahnsteigkante. 

Weiss nicht eh. Was willst Du überhaupt. Der andere schüttelt hektisch seinen Pony aus dem Gesicht. Der nur wenig beeindruckt, die Augen sofort wieder überdeckt. Flapp. Mann ey.

Eine Durchsage. Die S-Bahn wird fünf Minuten später eintreffen. Wir stehen hier schon knapp zehn Minuten und es ist echt kalt. Zeitungen sind keine mehr in den Tonnen.

Hunderte von Zigaretten sind hier ausgedrückt worden und hinterlassen eine von Punkt zu Punkt festgedrückte Ascheschicht auf den Rändern und Abdeckungen der Mülltonnen. Man riecht es schon, wenn man es nur ansieht.

In den Ritzen der Bodenfliesen sammeln sich diverse Flüssigkeiten. Cola. Bier. Piesel. Ich bewege mich, damit mir nicht zu kalt wird.

Die Kids nicht durch Nähe provozieren. Die wollen unter sich bleiben. Ein Schrei zerreisst die ohnehin pfeiffende Stille auf dem Bahnsteig. Von weitem haben die beiden einen Kumpel erblickt. Ey Alter.

Eine Frau vor dem Aufzug hustet in ihren Schal hinein. Wir fahren gemeinsam im Aufzug hoch. Es ist eng hier. 

Eine Bettlerin verlangt einsfünfzig für eine Zeitschrift. Mit großer Bestimmtheit in der Stimme. Sie befiehlt es mir. Nein, sage ich. Ich will nicht.

Jetzt nicht. Heute nicht. Ich denke trotzdem über die Bibel nach. Natürlich denke ich daran. Das Geschäft mit der Bedürftigkeit. Ich gucke auf die unglaublichen Mengen von Produkten, von Waren, von Käuflichem. Ich denke mir, das kann nur in einem Land voller Bedürftiger überhaupt funktionieren.

Ich habe nichts. Ich brauche was. Was ich habe, genügt nicht. Schöner Wohnen. Schöner Leben. Schöner Angezogen sein. Schöner aussehen. Eiskalt.