Montag, 20. Mai 2013

Das innere Bild

Sie weiß nicht, woher dieses innere Bild kommt und wo es ist. Ich denke darüber nach, dass sie vielleicht nicht die Einzige ist, die daran arbeitet, hart arbeitet, Bilder zu malen, die mit diesem inneren Bild in Verbindung stehen, Einblicke in das Dickicht eines inneren Gartens. 

Wir sprechen mehrfach über Natur. Es scheint unausgesprochen klar, dass es um einen sehr weiten Naturbegriff geht. Natur, die wir sind. Natur, aus der man nicht heraustreten kann. Natur, die wir beobachten. Natur, die sich den Sinnen mitteilt und Natur, die aus der Wahrnehmung durch die Sinne besteht. 

Ein Blick auf ihre Bilder hat mich auch immer wieder an Vögel erinnert. Da gibt es zum Beispiel einen fetten Spatz, der sich mit plüschigem Gefieder im Dreck putzt, den Dreckspatz. Da sind seine subtilen, ironischen und vielleicht sogar untertönig kritischen Blicke auf den Menschen. Pfeift drauf!

Es gibt einen sehr selbstbewussten Spatz, der sich sehr wundern muss über seine Begegnungen mit den Menschen, einen verschmitzten Spatz, der mehr weiß, als alle, die ihn so von der Seite ansehen, einen Spatzen, der sich in Übergröße vor aller Augen behaupten und einen Spatzen, der sich in anderen Bildern geradezu mit der Energie eines Raubvogels fortsetzt. 

Na ja und da isser ja, der Wurm, der im Schnabel steckt oder mit Krallen aus dem Boden gezerrt worden ist. Wenn einer den Wurm zuerst sieht, dann ein hungriger Vogel. Der Wurm ist seine Beute und die Krönung seiner Wahrnehmungs- und Jagdfähigkeiten. 

Also Natur ja, sagt sie, aber nicht lieblich, nicht hübsch, nicht oberflächlich und nicht vordergründig. Natur ja, aber keine Himmelsschlüssel und auch keine Tulpen. Türkischer Mohn darf es da schon sein. 

„Moooooohn“ sagt Yiyin und spricht über den Klang des Wortes Mohn. Nicht Mon, sondern Moohn. Und wenn sie das sagt, dann klingt wieder etwas aus jenem geheimen Garten, der eher nächtlich als tagsüber ist. 

Ich erzähle ihr, dass die Kapseln des Mohns sich bei Nacht und Mondlicht öffnen. Sie betont, dass es um türkischen Mohn geht und wenn sie es sagt, dann höre ich die Säbel rasseln. 

Türkischer Mohn sei giftig meint Yiyin und im Unterton des Wortes Gift erklingt noch viel mehr Gift: Unheimliches, Schatten, die Schattenseite, das Unerschlossene Gebiet, das Abenteuer auch, das, womit sich Öffentlichkeit nicht beschäftigt.

Es erklingt auch so etwas wie die Sehnsucht nach dem wahren Leben, nach einer ungeschönten und unberührten Wahrheit, nach einer Wahrheit, die sich nur den beharrlichen und konzentrierten Kämpfern offenbaren wird, nach einer Wahrheit, bei der es um Offenbarung geht und nicht um bunte Bilder oder eine geschmäcklerische Schönwetterphantasie. 

"Moooohn", sagt sie und spricht auch von der besonderen Energie, dieser Pflanze und es klingt nach einer sehr männlichen Energie, eine Energie die von unten nach oben drängt, die Einiges mit sich führt, an die Spitze treibt und letztendlich die Kapsel zum Explodieren bringt und zwar so, dass es spritzt. 

Yiyin lacht. Hintergründig ist ihr Lachen und frech, ein bisschen frivol, lustig und ungewöhnlich. Wir sprechen auch darüber wie schnell es mit dem Mohn geht. 

Mohn, der bei Nacht aufblüht, sich am Tag weiter entfaltet, glättet, aufscheint und schon kurze zeit später nimmt ein Windstoss das erste Blütenblatt mit davon und dann das zweite. 

Mohn welkt schnell, durchläuft alle Stadien in einer Geschwindigkeit, bei der man zusehen kann, wie es dahin geht. 

Am stärksten – jenseits der Natur des Mohn – ist die Künstlerin vom Klang des Wortes berührt.

"Mooooohn", sagt sie und es klingt, als hätte sie alles gesagt.