Samstag, 21. Januar 2012

Eindrücke und Gedanken

Wenn ich mal genauer hinsehe, dann gibt es so viele Eindrücke. Wenn ich mal genauer hinsehe, anstatt immer nur zu denken, was ich fühle, dann ist immer Welt um mich rum, will heißen:

Ein Raum und seine Eigenschaften und in mir drin, irgendwo da im Kopf die Gedanken und im Körper die verschiedenen Empfindungen im Körper zu sein.

Gestern abend, da saß ich im Bus und ließ mich geruhsam von der Arbeit quer durch die Stadt nach Hause kutschieren. Es schneite. Die Leute, die einstiegen waren eingeschneit und wurden im warmen Bus recht schnell feucht. Im Bus war es dampfig. Die Fenster beschlugen. Irgendwann waren sie so eingenebelt, dass man nur noch Strukturen und Lichter sehen konnte.

Strukturen von heruntergelaufenen Wassertropfen, in denen sich die Lichter von Ampeln wiederfanden und als farbig Nebelbänke auf den Scheiben abbildeten. Rot und Grün. Orange Lichter. Wozu in die Disco gehen, ein Auto blinkt. Die Rücklichter als Chinesische Augen in Szene gesetzt. Lastwägen und PKWs mit unterschiedlichen Blinkerhöhen. Die Nebelstruktur auf den Scheiben gezeichnet von Abdrücken, die die Fahrgäste hinterlassen haben: Haarstrukturen, Wischstrukturen, Zufälliges, das vom Anlehnen zurückgeblieben ist.

Eine Horde Jungs mit vorschriftsmäßiger Kleidung und nur bestehend aus möglichst coolem Gehabe, Handshake, Baseballkappe, Gesäßteil der Hosen bis in die Knieekehlen hängend, möglichst klobige Turnschuhe, T-shirts, riesige Wollkragen-Schals im Handstricklook und darüber Kapuze. Haltung: Kopf irgendwie eingezogen und immer so, als wären die Räume zu niedrig, die Körperlänge in der Raumhöhe nicht aufrecht unterzubringen.

Es hat alles seine Ordnung und natürlich eine Fön- oder Gelfrisur – wahlweise. Die die gegeelt waren, waren beschäftigt, die gefönten auch, mit neckischen Handbewegungen die das Pony von links nach rechts drapieren oder eben Headshakes, die das Ganze in die zufällige Ordnung einer Snowboarderwerbung bringen, die einen Snowboarder zeigen, der gerade heile vom Berg runtergekommen ist und dabei die ganze Zeit Fahrtwind in die Haare bekommen hat.

Dazwischen ein-zwei Kurzhaarschnitte, die keinerlei Aufmerksamkeit benötigten, dafür waren dann Ohren oder Nase gepierct. Irgendein männlicher Schmuck muss sein. Von Mädels süß gefundene Silberringe an den Fingern, Kettchen am Arm oder am Hals, als Erinnerung an Süditalienische Mafiabosse.

Alles mit Stil. Einer, der trug nur sein T-Shirt und ansonsten Muskeln unter der Haut. Und das bei Scheefall. Die Kumpels fragten ihn doch gleich, fast wie erwartet, ob ihm nicht kalt sei. Woraufhin der natürlich sagte, dass ihm nicht kalt sei. Männer.

Zwei Mädels saßen entgegen der Fahrtrichtung im Bus und tranken Bier aus der Flasche. Jede nuckelte an ihrer eigenen Flasche. Die eine Blond. Die andere Schwarz. Die Blonde mit einer zerschlissenen Jeans, große Löcher am Oberschenkel, sorgfältig abgeschliffener Stoff. Die andere weiß ich nicht.

Die beiden waren ansonsten nicht auffällig, redeten nicht und lachten nur leise. Orientierten sich auch nicht an den Jungs und die Jungs auch nicht an ihnen. Die Jungs waren unter sich und es war nur schwer herauszubekommen, worum es außer der Ein- und Ausübung von Gehabe und einer bestimmten Art von Ehre und dem Wettbewerb „Wer ist hier der coolste?“ überhaupt gegangen wäre.

Handbewegungen, die eine relativ eindeutige Natur hatten, wahrscheinlich ging es um die Handhabung von Computerspielen, hektisches in das Smartphone Reingehöre (wer redet hier von Handies? die sind längst vorbei) – ey, halt doch mal die Klappe, ich höre nichts, dann Headshake, er hat etwas gehört in seinem schwarzen Smartphone.

Die Mädels sitzen vereint auf den Sitzen und teilen sich mit schräg gehaltenen Köpfen einen Kopfhörer und bewegen sich zu einem bestimmten Musikstück, halten die Finger an die Ohren, damit die Stöpsel nicht rausfliegen.

Die sind alle an der Station "Graue Freiheit" ausgestiegen. Ich fands interessant. Aber fremder als Einwohner eines fernen Dorfes hätten die mir nicht sein können. Mit diesen ganzen ungeschriebenen Gesetzen, die das Miteinander dieser jungen Leute regeln. Gesetze, in die ich nicht eingeweiht bin und auch nicht eingeweiht sein soll. In den Augen dieses Teils der Jugend existiert man gar nicht erst oder wird unter der Schublade Lehrer, Eltern oder irgendwas anderes abgelegt und gänzlich ignoriert.

Noch bin ich jung genug, mich nicht wirklich daran zu stören, von der Jugend ignoriert zu werden. Aber was, wenn man dann doch auf die Hilfe der jüngeren Generation angewiesen ist?

Was tu denn ich, um den Vertretern der älteren Generation zu helfen?

Ich versuche ja immernoch so viel wie möglich zu lernen.

Aber es gibt auch Dinge, die will ich überhaupt nicht lernen. Computerspiele zum Beispiel. Das habe ich nur einmal probiert, mit dem turnschuhtragenden Marienkäfer, der Marienkäfermädchen aus Schneckenfallen befreit und der selber von dicken Nacktschnecken bedroht wird:

Die vorantreibend, melancholische Musik bei dem Spiel hat mich so traurig oder hektisch werden lassen, dass ich es nicht lange durchgehalten habe und dann: von der Willkür, oder der mir nicht einsichtigen Ordnung, eines Bildschirmspiels rumgeschickt zu werden, das hat mir einfach keinen Spaß gemacht. Ich bin gleich ausgestiegen. Und wenn ich von Ego-Shooter-Spielen höre, gelegentlich mal ein Bildschirmfoto davon in einer Tageszeitung sehe, dann kommen immer nur ablehnende Gedanken. Ich würde ja auch nicht auf eine Achterbahn gehen oder einen Bungeesprung unternehmen.

Lieber sitze ich herum und hänge meinen Gedanken nach. Oder ich beobachte. Lasse mich rumfahren.

Ja, das ist immer noch so und unvermindert: Er fehlt mir. Das sind Gedanken und Gefühle. Vor der Arbeit und nach der Arbeit. Vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen.

Gegenmittel: Keins. Alternative: Selber etwas vom Glück produzieren. Selber etwas tun, anstatt zu warten. Etwas Neues, anstatt dem Alten ständig nachzuhängen.

Gestern war Freitag. Da haben wir uns meistens am Abend getroffen.

Gestern war Freitag und ich habe bis um acht Uhr im Büro gearbeitet und bin dann mit dem Bus nach Hause gefahren. Allein. Habe mich auch allein gefühlt. Habe nicht gewusst, wie Nähe erschaffen.

Ich komme nach Hause und will sofort ins Bett und sofort einen Krimi gucken und sofort nach der Arbeit springe ich auf die nächste Art des Beschäftigtseins über: Von der Arbeit, vom Bus und dann vors Fernsehen.

Durch den Schneesturm nach Hause. Riesenflocken. Und weil es so warm ist, waren sie patschnass, als sie mir ins Gesicht und in die Augen klatschten. 

Ich habe schnell gemacht, mit dem Heimkommen, den Kopf eingezogen, beim reinkommen, habe meine Heizung angedreht, mir einen Tee aufgesetzt und noch eine Freundin angerufen.

Ich habe mir von ihr von den Eigenschaften ihres Sohnes erzählen lassen. Ein Kind, das nie ein Kind war. Ein Kind, das sich ständig in die Welt der Erwachsenen einfindet. Es gibt für ihn keine Spielwelt und auch kein Kindsein.

Nur den Ernstfall, für den es sich brennend interessiert, den es sich mit sehr viel Intelligenz zusammenreimt, mit einem Verhalten, das man als Erwachsener nicht von einem Kind erwartet. Mit einem Verhalten, das altklug und viel zu intelligent und logisch ist. 

Ohne Kinderlogik. Eher mit der Logik eines chronischen Weltverbesserers, dem man es aufgrund seines Alters als Klugscheißerei auslegt, denn als ausgereiftes Weltverständnis. Letzteres ist aber tatsächlich eher der Fall.

Man würde ihm seinesgleichen wünschen. Eine kleine Liga hochbegabter Kinder, die untereinander fachsimpeln und ihm die Einsamkeit nehmen könnten.

Er rettet sich rüber zu den Erwachsenen, weil alles, was ihn interesssiert, dort zu finden ist. Nichts ist bei den Kindern zu finden für ihn. Er spielt nicht mit Teddies, Autos oder Computern. Er will die Autos, den Computer und den Aufbau einer Uhr, eines Radios, einer Waschmaschine verstehen, die Struktur und die Funktionsweise.

Er beobachtet wie andere „ticken“ – hat aber sich selber nicht im Griff. Er kann nicht anders als bedingungslos seinen Ideen zu folgen – so grandios die auch sein mögen, andere Menschen würden sich lieber von ihm respektiert fühlen, dann wäre es für sie einfacher, sich für ihn zu interessieren.

So wehrt man ihn komplett ab und bekommt von all dem, was er zu bieten hat, nicht viel mit. Ich zumindest wollte von ihm erst einmal nichts mehr sehen oder hören. Keine Belehrungen, kein Wissen, kein Knowhow – auch wenn er alles weiß: Geschichtsbücher liest er. Gebrauchsanweisungen liest er. Betätigt sich in den Bereichen Haushaltstechnologie und Gestaltung. Will überall seine Ideen zur Verbesserung der Welt bedingungslos durchsetzen.

Man selber, wenn man einfach so da sitzt und sich über irgendetwas unterhält, was schon längst vorbei ist, wie ich das mit seiner Mutter fast immer tu, kommt sich dann irgendwann blöde vor, weil es eben nicht gelingt und auch gar nicht in der Absicht liegt, sich mit Gegenwärtigem zu beschäftigen.

Mit seiner Mutter rede ich immer über irgendwelche Leute, die wir gemeinsam gekannt haben. Wir lieben es über deren Eigenschaften zu sprechen. Wir tauschen Erinnerungen aus. Erinnerungen über Lebensabschnitte, die wir gemeinsam erlebt haben. 


Wir kauen zum 1000sten oder 100000mal durch, was der eine oder andere gemacht hat, wie wir das erlebt haben und so weiter. Das ist, als würden wir es lieben, eine Wunderland-Schallplatte immer wieder neu zu erzählen, den gleichen Film aus verschiedenen Lebensaltern heraus immer wieder zu sehen. 


Weißt du, sage ich zu ihr, Winnetou war schon immer mein Held und der ist mit mir mitgewachsen und ich liebe es heute, so wie früher, über das zu sprechen, was mir an Winnetou so gut gefällt. Seine Erhabenheit, seine edle Größe und das man ihm zutraut, wahrhaftig zu lieben und sich für eine Liebe zu entscheiden. Die Liebe zur Wahrheit und der Umgang mit Natur und natürlich der Umgang mit Frauen. Winnetou konnte reiten, so wie ein Rockstar singen kann.

J., ihr Sohn, macht sich über die Elektrik her, optimiert die Schichtung des Kaminholzes zu Dekorationszwecken und studiert die Gebrauchsanweisung für den Spielecomputer seiner kleinen Schwester und will anderen die Welt erklären, so wie er sie begriffen hat. Mama, jetzt hör doch mal zu, und er befasst sich mit ihrem neuen Handy und will ihr all die Features nahelegen und die Handhabung dieses Gerätes.  

Analytisch. Logisch. Im Ernst und ohne Spiel. Er hat überhaupt nicht diese Schutzschicht wie unsereins, der es fertigbringt in irgendwelchen Träumen und Phantasien seine Zeit zu vergeuden, anstatt einen tatsächlichen Einfluss auf die Gegenwart zu haben.

Der hat das gemacht und der hat das gemacht und das war so und so oder eher doch so und aus der jetzigen Perspektive sieht es so und so aus. Wie zwei Alträucher, während der Junge die Waschmaschine repariert, die Steckdose versetzt und dies demonstrativ auf dem Wohnzimmerteppich und genau in seiner Mitte vollführt, während wir nichts anderes im Sinn haben, als in irgendwelchen alten Kamellen zu schwelgen, zu fachsimpeln, zu mutmaßen, lauter sinnloses Zeug, so lange wir nur nicht gegenwärtig werden müssen, aufräumen, einen Blick auf die Bedürfnisse der Kinder, des Hauses, des Hundes, des Gartens oder der Gegenwart zu richten.

Was können wir tun, um unsere Welt zu verbessern? Was können wir tun, um die Funktionen unserer Welt zu verstehen? Nein, ich glaube, wir leben in weitgehend in unseren Träumen und Geschichten, in unseren Leidensgeschichten und in unseren Erinnerungen, wir hängen irgendwo in einem längst luftleer gewordenen Raum herum und wollen dabei absolut nicht gestört werden.

Der Raum, in dem wir uns bewegen, der bietet die Sicherheit, das er schon vorbei und längst erkaltet ist. Das ist unsere Sicherheit. Das ist die Sphäre in der wir uns gefahrlos und von daher überlegen bewegen können.

Wir sind nicht gegenwärtig. Wir sind nicht präsent. Wir hängen in unseren Geschichten. In unseren Weltkonstruktionen, die unsere Prägung wiederkäuen. Wieder und wieder.

Wir schaffen es gar nicht, uns mit Gegenwart zu beschäftigen, geschweige denn, so etwas wie eine Zukunft zu schaffen. Wir leben nicht im Augenblick. Nicht in der Gegenwart. Wir brauchen immer eine Menge Fluchttüren in die Erinnerung und auch in die Mutmaßung darüber, wie es denn gehen könnte oder besser sein könnte oder wie es denn vielleicht richtig ist.

Wir reden auch gerne über andere oder über das, was wir von uns selber denken oder zu wissen glauben – aber auch das findet im Traum statt.

Der Junge versetzt in der Zeit die Steckdose, damit man sich nicht so weit rüberbeugen muss, wenn man sie benutzt. Der Junge hat den Stecker aufgeschraubt, holt einzelne, bunte Kabel aus den inneren Plastikrinnen des Steckers, sieht sie sich an, biegt sie raus und wieder zurück, verlängert das Kabel oder verkürzt es, der Hund will pinkeln und die Tochter nicht mit ihm raus, alle wollen uns und wir wollen nicht raus aus unserer Gespensterwelt, einer Welt aus längst vorbei, irrelevant, nicht gegenwärtig, einer Welt aus Träumen und Erinnerungen an vergangene Liebschaften.

Es hätte so sein können oder doch auch so und hätte er es so verstanden, dann wäre es mir so gegangen, und damals habe ich dieses oder jenes nicht so oder doch so verstanden. Alles so irrelevant.

Wir rauchen, wir trinken Tee, wir sinnieren, tauchen ab, vergessen die Welt. Wir wissen nicht, was wir da tun, in dem wir glauben, wir wüssten, was wir da tun und in dem wir glauben, wir hätten alles im Griff.

Wir leben in der Vergangenheit, in der Erinnerung, wir driften ab und weg und merken es nicht und der Junge stört. Für ihn gibt es nur den Ernst der Gegenwart und ihrer Funktionen. Von Funktionen haben wir keine Ahnung. Das war in der Schule. Wir haben es nicht gelernt uns für jene Welt zu interessieren, in der wir tatsächlich leben. Wir reden und pflegen den Nachhang, die Nachwirkungen einer Welt, die wir auch damals schon nicht verstanden haben. Weil wir damals schon genauso wenig gegenwärtig waren wie jetzt.

Für Kinder gibt es erst mal nur die Gegenwart, bis auch sie dann anfangen, Vergangenheit anzuhäufen.

Und das war mir gestern aufgefallen, als ich die beschlagenen Fenster des Busses ansah, diese ganzen Spuren, die sich im Beschlag abzeichnen, diese Vergangenheiten, die sich als Spur in der Gegenwart abzeichnen.

Der Abdruck von Haaren eines Kopfes, der sich während der Fahrt müde an das Fenster angelehnt hat, der Abdruck von Kindergesichtern, die mit dem Nebel auf dem Fenster ihre Spiele gespielt haben, Nase reindrücken, Stirn abdrücken, mit der Zunge ablecken, die Lippen auf die Scheibe pressen, all das hinterlässt Spuren.

Mit der Vergangenheit in meinem Hirn werde ich niemals fertig werden. Die ist mittlerweile ein prallgefüllter Sack. An den traurigen Geschichten hänge ich besonders fest. Untrennbar hänge ich an denen dran und kann immer noch darüber heulen. Jeden Tag neu. Aber ich sehe auch nicht die Alternative dazu.

Es ist nicht so leicht, immer wieder zu vergegenwärtigen, das nur man selbst für sein Erleben zuständig ist und niemand anderes. Der kurze Weg wird immer wieder erhofft: Andere sollen für Erlösung sorgen.